Obersendling:Zielgenau versorgt

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Vor allem Menschen mit Migrations- und Fluchthintergrund können sich bei den Johannitern zum Rettungssanitäter ausbilden lassen. Es soll ihnen den Einstieg ins Berufsleben ermöglichen

Von Ilona Gerdom, Obersendling

Am Boden sitzt eine Frau. Ihr Kopf ist nach vorn gebeugt, die Arme stützt sie auf den Knien ab. Sie ist verletzt. Beim Aufbau eines großen Konzerts hat sie eine Querstrebe gegen den Kopf bekommen. Auf der Stirn hat sie eine Platzwunde. Zwei Rettungssanitäter sind glücklicherweise zur Stelle. Die beiden jungen Männer tragen rote Hosen und gelbe Jacken mit Reflektoren. Darauf das Zeichen der Johanniter. Einer spricht mit der Frau. Der andere kramt im Rucksack nach Verbandszeug, Blut ist aber keins zu sehen. In Wahrheit gibt es keine Platzwunde. Und die Frau am Boden ist auch keine Aufbauhelferin, sondern Fachdozentin.

Alexandra Hubmann ist eine von vielen, die bei der Ausbildung zum Rettungssanitäter mitwirken. Hier in Obersendling heißt die Ausbildung allerdings "Ziel". Das steht für "Ihr Zugang ins Erwerbsleben" und ist für Menschen gedacht, die über das Jobcenter oder die Agentur für Arbeit förderungsberechtigt sind. Ein Schwerpunkt ist die Deutsch-Sprachförderung, weshalb die Ausbildung besonders für Menschen mit Migrations- und Fluchthintergrund geeignet ist.

Den Ernstfall simulieren: Eine Bühnentechnikerin hat einen Schlag von einer schweren Stange auf den Kopf bekommen, sie ist teilweise ohne Bewusstsein. Wie müssen die künftigen Rettungssanitäter reagieren? (Foto: Florian Peljak)

"Mir ist schwindlig", stöhnt Hubmann. Vorsichtig legt einer der angehenden Rettungssanitäter sie auf den Boden. Gemeinsam bringen die beiden Auszubildenden sie in die stabile Seitenlage. Um sie herum stehen Tische, an denen die anderen Kursteilnehmer und Kursteilnehmerinnen sitzen. Sie beobachten die Szene gespannt. Auch das Zuschauen ist eine gute Vorbereitung für die Zwischenprüfung, die demnächst ansteht. Danach werden die Schüler von den Johannitern an Rettungsdienste und Krankentransporte für Praktika vermittelt. Insgesamt drei Module müssen die Schüler und Schülerinnen erfolgreich absolvieren. Nach dem ersten sind sie Ersthelfer, nach dem zweiten Pflege- und Sanitätshelfer. Beim dritten haben sie die Wahl zur Ausbildung zum Rettungssanitäter oder zum Pflegediensthelfer.

Die Ausbildung zum Ersthelfer kann man normalerweise an einem Wochenende absolvieren, hier dauert sie etwa einen Monat. Sie besteht aus 84 Unterrichtseinheiten, jeweils 45 Minuten. Grund für die Dauer ist einerseits die Sprachförderung. Zwar wird schon zur Aufnahme in das Bildungsprogramm ein Sprachniveau von B 1 vorausgesetzt, doch das medizinische Vokabular müssen sich die Schüler erst aneignen. Bei einem Einsatz ist es natürlich wichtig, dass die Rettungssanitäter die Patienten verstehen. Nur so können sie sie richtig versorgen. Dafür geben Deutschlehrer und Deutschlehrerinnen mit Schwerpunkt "Deutsch als Zweitsprache" Unterrichtsstunden.

Außerdem gibt es ein Team von Sozialpädagogen und Sozialpädagoginnen, die die Ausbildung betreuen. Einer von ihnen ist Sascha Migge. Er sagt, dass es wichtig sei, den Schülern Teamarbeit näherzubringen. "Im Rettungswagen ist Zusammenarbeit extrem wichtig." Aktuell absolvieren laut Migge an die 70 Menschen eines der drei Module. Seit April 2018 läuft das Bildungsprogramm. Angefangen habe es aber eigentlich 2015, erklärt Migge. Da hatten die Johanniter die Erstversorgung von vielen Geflüchteten übernommen. Unterkünfte wurden betrieben, man bot Sozialberatungen an, um beim Ankommen zu helfen. Der nächste logische Schritt ist laut Migge, für Bildung und Arbeit zu sorgen. Also entwickelten die Johanniter das Bildungsprogramm. Ziel ist dabei vor allem, den Menschen einen Weg ins Berufsleben nicht nur zu zeigen, sondern ihn auch zu ermöglichen.

Hat etwas Bammel vor der Prüfung: Nasim Karim Nafkhosch. (Foto: Florian Peljak)

Inzwischen ist die Erstversorgung im Klassenzimmer abgeschlossen. Die beiden Auszubildenden packen Wärmedecke, Blutzuckermessgerät und Verbandszeug wieder zurück in den Rettungsrucksack. Dann folgt die Diskussionsrunde. Die angehenden Rettungssanitäter hatten sich vor allem mit den Kopfschmerzen beschäftigt. Bis der Verband angelegt wurde, hatte es lange gedauert. Die zweite anwesende Fachdozentin, Kerstin Willerding, will wissen, woran das lag. Schließlich fragt sie: "Was ist denn eine Querstrebe?" Sie blickt in fragende Gesichter. Auf einmal ist klar, warum die zwei Auszubildenden nicht direkt die angebliche Platzwunde versorgt haben. Willerding sagt: "Wenn ihr ein Wort nicht versteht, dann fragt einfach." Das ist nicht nur im Klassenzimmer oder bei der anstehenden Prüfung wichtig, sondern vor allem bei realen Einsätzen.

Einer der beiden Auszubildenden sagt, dass er die Übung schon ganz gut fand. Er stellt aber fest: "Ich habe noch ein paar Sachen vergessen." Er heißt Nasim Karim Nafkhosch. Der 21-Jährige ist seit Februar in der Ausbildung. 2015 kam er aus dem Irak nach Deutschland. Auch wenn Deutsch nicht Nafkhoschs Muttersprache ist, kann er es schon sehr gut. Er erzählt, dass sein Onkel Arzt war. "Als ich klein war, wollte ich auch Arzt werden", sagt er. Vor allem wolle er als Rettungssanitäter anderen Menschen helfen. Die Zustände in seinem Heimatland seien ein Grund für diesen Wunsch.

Wenn man Nafkhosch nach den bevorstehenden Prüfungen fragt, wird er etwas nervös. Lange ist es nicht mehr bis dahin. Am 9. und 10. Januar finden sie statt. Es sei schon recht schwer, findet der 21-Jährige. Aber er sagt auch: "Die Schule ist mir wichtig, deshalb will ich fleißig lernen." In zwei Monaten beginnt dann schon das Praktikum. Und danach? Will Nafkhosch auf jeden Fall auch als Rettungssanitäter arbeiten.

© SZ vom 04.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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