Null Acht Neun:Singende Gefahren

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Wer ein Lied trällert, kann nicht böse sein - das gilt in Corona-Zeiten nicht mehr unein­geschränkt. Und es hat gravierende Auswirkungen auf die Musikanten und Chöre der Stadt

Kolumne von Anna Hoben

Wo man singt, da lass' dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder, so geht ein Sprichwort. Kann man jetzt leider auch nicht mehr uneingeschränkt unterschreiben. Die Corona-Variante müsste eher ungefähr so heißen: Wo man singt, da mach dich vom Acker, denn dort verbreitet das Virus sich wacker. Vor einigen Tagen hat die bayerische Regierung neue Regelungen für den "Probenbetrieb für Laienmusikgruppen" erlassen, die penible Anweisungen für das Spielen von Blasinstrumenten im Allgemeinen (ein "Durchpusten des Instruments beim Ablassen des Kondensats" ist nicht erlaubt) und Querflöten im Besonderen beinhalten (sie sind "auf Grund der höheren Luftverwirbelungen am Rand zu platzieren"). Chorsängerinnen und -sänger werden jedoch mit einem lapidaren Satz noch weiter an den Rand gedrängt als Querflöten: "Wegen der erhöhten Infektionsgefahr, die mit lautem Gesang verbunden ist, gilt diese ausnahmsweise Regelung nicht für Chöre und sonstige Gesangsgruppen."

Aerosol heißt der Übeltäter, der für die erhöhte Infektionsgefahr verantwortlich gemacht wird. Dass sie deshalb nicht mehr singen dürfen, wollen die Chöre aber nicht hinnehmen; die Präsidenten mehrerer Verbände haben deshalb einen Protestbrief an die Politik geschrieben. Die Behauptung einer erhöhten Gefahr sei "ohne jede Bezugnahme auf entsprechende wissenschaftliche Erkenntnisse erfolgt", heißt es darin, und überhaupt: Was soll das überhaupt bedeuten, laut? "Völlig undifferenziert". Zur Verteidigung der Politiker könnte man fragen: Wo sollen sie anderen Gesang hören als den im Festzelt? Doch auch ohne eine Studie gesehen zu haben, die aufzeigt, um wie viel die Aerosolkonzentration pro Dezibel in die Höhe steigt, ist man geneigt, sich auf die Seite der Chöre zu schlagen.

Gut, an mancher Stelle ist es ja vielleicht nicht gar so schlimm, wenn im Moment nicht oder weniger gesungen wird: in Kirchen etwa, wenn das Publikum geschätzt eine halbe Minute der Orgel hinterherschlurft, oder im Deutschen Theater, wo dieser Tage die Aufführungen des Wolfgang-Petry-Musicals "Wahnsinn" zu Ende gegangen wären. Ansonsten aber fehlt es natürlich, das Singen. Und auf der sicheren Seite ist zurzeit offenbar nur, wer dazu unter die Dusche geht.

© SZ vom 10.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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