Neue Heimat:Ein Raurackl für Rakka

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Flügel, Hörner, stechende Augen - so ein Wolpertinger kann einem Zugereisten einen Schrecken einjagen. (Foto: Stephan Jansen/dpa)

Die erste Begegnung mit einem Wolpertinger findet unser Kolumnist aus Syrien eher furchteinflößend. Doch bei genauerem Hinsehen ist ihm das Fabelwesen gar nicht mehr so fremd.

Kolumne von Mohamad Alkhalaf

Die Bayern haben Wildschweine oder Eichhörnchen. Und für daheim gibt es sie sogar als Stofftier. Mancher Bayer stopft sich auch einen Hasen oder einen Fuchs aus und hängt ihn an die Wand. So sind Wildtiere ins Haus gezogen, wo schon Hund und Katze sind. Die werden allerdings eher selten ausgestopft. Einer meiner Bekannten hatte neben diesen Haustieren noch eine weitere Spezies im Wohnzimmer. Ich traute meinen Augen kaum, hatte ich doch nur zwei Gläser Kinderpunsch getrunken.

Das Tier saß reglos auf der Kommode, hatte Flügel, zwei Hörner und stechende Augen. Das Fell des Tiers glänzte im Schein einer Kerze. Irgendwie wirkte dieses kleine Ungeheuer furchterregend. Das war meine erste Begegnung mit einem Wolpertinger.

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Von Mohamad Alkhalaf

Interessant, wie schnell einen manchmal dieses leise Gefühl von Unsicherheit - ja, fast Angst - beschleicht, nur weil man etwas so nicht kennt. Nur weil es sich wie hier um eine Mischform handelt, von der man bisher überzeugt war, dass die Elemente so nicht zusammenpassen. Aber wer hat das eigentlich beschlossen? Warum soll ein Geschöpf nicht gleichzeitig Flügel, Geweih und Riesen-Ohrwaschel haben?

In Bayern erzählt man sich verschiedenste Legenden über den Wolpertinger. Es heißt, wer ihn fangen wolle, müsse bei Vollmond mit einer Kerze, einem Sack, einem Stock und einem Spaten losziehen. Solche Geschichten wecken die Neugier, auch wenn es sich hier lediglich um ein Fabelwesen handelt, das mehrere Namen hat. Raurackl zum Beispiel. Ursprünglich dienten die Kreaturen offenbar dazu, Touristen um gutes Geld zu betrügen. Leichtgläubige Preißnschädel, wie der Bayer so schön sagt, waren damals die Opfer. Syrer dürften darunter weniger gelitten haben, jedenfalls habe ich in meiner früheren Heimat Rakka noch nie einen Raurackl gesehen.

Doch die Zeiten ändern sich. Beim genaueren Hinsehen war mir der Wolpertinger plötzlich gar nicht mehr so fremd. Im Gegenteil: Die zwei Hörner legen nahe, dass diese Figur für ein Dasein ausgelegt ist, wo man für den Kampf bereit sein muss. Ein wachsamer Blick, als könnte jeden Moment etwas geschehen. Seine treuen Augen machen den Eindruck, dass er seine Hörner eher im Notfall benutzt, etwa wenn er sich zur Wehr setzen muss. Eigenschaften, mit denen dieses Geschöpf auch sehr gut in meinem Haus in Rakka hätte stehen können.

Das Haus steht mittlerweile nicht mehr, dafür steht nun dieser Wolpertinger vor mir. Mit zwei weiteren Eigenschaften, die weniger nach Syrien passen, aber vielleicht ganz gut hierher nach München. Etwa die großen Ohrwaschel und die offenen Arme. Weil die Bayern oft ein offenes Ohr für einen haben, wenn man sie was fragt, auch wenn man das vielleicht nicht gleich vermuten würde, wenn man zum ersten Mal an einem Stammtisch sitzt. Aber sie lassen einen eben dann doch am Tisch sitzen.

Und dann sind da die Flügel. Vom Bayern selbst geschaffen, könnte man ihm dies als Ausdruck der eigenen Großspurigkeit auslegen, den Hang zum Überflieger, zum Mia-san-Mia-Bayern. Ich sehe in den Flügeln des Wolpertingers aber vor allem ein Symbol für das freie Leben in Bayern, wo einem niemand das Fell über die Ohren zieht, selbst wenn einem die Hörner fehlen.

© SZ vom 16.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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