Neuaubing/Westkreuz:Gesichter des Viertels

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Ein Jahr waren die Fotografin Bethel Fath und die Künstlerin Naomi Lawrence in Neuaubing und im Westkreuz unterwegs

Von Ellen Draxel, Neuaubing/Westkreuz

Mit grünem Sportshirt und Fußball in der Hand steht Kenneth auf der Wiese, am liebsten würde er den Ball sofort fallen lassen und loskicken. Genau hier, zwischen den Hochhäusern an der Wiesentfelser Straße, um nicht immer den weiten Weg zum Bolzplatz zurücklegen zu müssen. In einem der Blocks lebt er mit seiner Schwester und den Eltern. "Aber wir trauen uns nicht auf den Rasen", sagt der Junge, "denn wenn wir es tun, schimpfen uns die alten Leute aus." Sein Wunsch ist ein Fußballplatz in der Wohnanlage. Und: "Dass Alt und Jung besser miteinander auskommen".

Kenneth Traum ist unter dem Schlagwort "Zusammenhalt" auf einer der 16 Reportage-Stelen zu finden, die in der Ausstellung "Gesichter unseres Viertels" auf der Freifläche am Forum am Westkreuz zu sehen sind. Ein Jahr waren die Fotografin Bethel Fath und die Künstlerin Naomi Lawrence im Auftrag der Münchner Gesellschaft für Stadterneuerung (MGS), die für die Sanierung des Gebiets zuständig ist, in Neuaubing und im Westkreuz unterwegs.

Fath und Lawrence wollten wissen: Wer wohnt und arbeitet hier, was macht den Charme des Quartiers aus, was sollte bewahrt, was verändert werden? "An die hundert Menschen haben wir interviewt", sagt Fath. Einfach so - auf der Straße, in Läden, in den Lokalen: "Ich kannte den Stadtteil nicht, deswegen sind wir anfangs erst mal so im Viertel abgehangen." Die beiden waren zum Essen beim Inder, der sich gleich bereit erklärte, bei dem Projekt mitzumachen. Sie besuchten die Menschen in ihren Wohnzimmern, sie gingen ins Alten- und Servicezentrum, in Jugendtreffs, Gewerbezentren und zu den ESV Sportfreunden München-Neuaubing.

Im Alten- und Servicezentrum am Aubinger Wasserturm lernen die beiden Ali Assal kennen. Er ist jeden Tag dort, hilft gern in der Küche und spielt danach mit anderen Besuchern Rummikub. Die Künstlerinnen erfahren, dass sich viele Senioren barrierefreie Wege und Parkplätze wünschen. Und dass die Frauen aus der Nähgruppe sich für die Kinder mehr Schaukeln und Rutschen zwischen den Reihenhäusern vorstellen könnten. "Erfahrung" betiteln Fath und Lawrence später die Stele mit den Fotos der Senioren.

"So ein Stadtteil", weiß Fotografin Fath, "ändert sich ständig". Häuser werden abgerissen und neu gebaut, Plätze verwandeln sich, Menschen ziehen weg und andere neu zu. Die 16 Stelen, die die Künstlerinnen geschaffen haben, dokumentieren nicht nur die Vielfalt im Viertel. Sie sollen die Bewohner von Neuaubing und dem Westkreuz auch zum Nachdenken anregen: über sich selbst, das Viertel und ihre Nachbarn. Und sie sollen Lust machen, sich an Projekten zu beteiligen, die den Stadtteil noch lebenswerter machen.

Dass die Unterführung an der S-Bahn-Station Neuaubing marode ist und eigentlich grundlegend saniert werden müsste, dass viele Anwohner den Anstieg des Verkehrs vor allem in Freiham befürchten, dass dörfliche Strukturen in Altaubing erhalten werden sollten - all das ist aus den Porträts ersichtlich. Klar werden aber auch mögliche Reibungspunkte: Hochhaussiedlungen stehen im Viertel neben Bungalows, Doppel- und Reihenhäusern. Es gibt Ladenzentren als soziale Dreh- und Angelpunkte wie das Paul-Ottmann-Zentrum, das auf der Stele "Mikrokosmos" abgebildet ist. Und auf der anderen Seite die Einkaufsmeilen Limes- und Bodenseestraße.

Die provokante Frage, die das Kunstprojekt stellt, ist die nach dem richtigen Maß an Erneuerung. Wie geht man beispielsweise mit Gebäuden aus der NS-Vergangenheit um? Die Bewohner der Dornier-Siedlung wollen alles so belassen, wie es jetzt ist. Dementsprechend ist die Stele mit dem Begriff "Bewahren" überschrieben. Aber darf man das - angesichts einer Architektur, die dem nationalsozialistischen Ideal entspricht? Architekt Franz Ruf hat die insgesamt 139 Ein-und Mehrfamilienhäuser sowie die fünf Sonderbauten zwischen 1938 bis 1940 entworfen und gebaut - als Siedlung für die Beschäftigten der nahen Dornier-Flugzeugwerke. Das Herz des Areals, der Gößweinsteinplatz, wurde als Dorf- und Aufmarschplatz konzipiert.

Auch die Baracken an der Ehrenbürgstraße stammen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, die Reichsbahn ließ die Gebäude 1942 als Arbeitslager für ausländische Zwangsarbeiter erbauen. Später fungierte der Ort dann als Kriegsgefangenenlager, als Flüchtlingsunterkunft und als Wohnheim für Bahnbedienstete, bevor in den Achtzigerjahren Handwerker und Künstler hier einzogen. Alexander Werner betreibt seit 1984 eine kleine Schreinerei an der Ehrenbürgstraße. Er möchte gerne bleiben - ebenso wie Holzbildhauer Peter Frisch, der eine der Baracken als Atelier nutzt.

"Was wir zeigen, sind nur Momentaufnahmen", betont Bethel Fath, "wir erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit". Geplant war die Ausstellung zunächst mit einem von Naomi Lawrence kreierten Stadtplan, auf dem die 16 beweglichen Stelen hätten hin und her gerollt werden können. Ein auch optisch nachvollziehbares Verschieben der Räume. Doch die winterliche Witterung macht der Idee nun doch einen Strich durch die Rechnung. Zumindest für dieses Mal.

Zu sehen ist die Fotoreportage bis zum 17. Dezember in der ehemaligen Schlecker-Filiale an der Aubinger Straße 43.

© SZ vom 25.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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