Nach der Europawahl:Wo sind sie geblieben?

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Mehr Rätsel als Antworten: Selbst in Untersendling, einst Arbeiterviertel und rote Hochburg, hat die SPD Federn lassen müssen.

W. Görl und B. Kastner

Die Tasse Kaffee kostet hier 80 Cent, der Piccolo zweiachtzig. Auf den Stühlen liegen die Klanghölzer für die Gruppe nachher, "Tanzen im Sitzen" heißt es, was sie im Alten- und Service-Zentrum (ASZ) in Untersendling anbieten, einer Einrichtung der Arbeiterwohlfahrt, gegründet von einem ehemaligen SPD-Stadtrat. Ein Zivi serviert gerade das Mittagessen, der Salat steht schon auf dem Tisch, und die Dame sagt: "Ich bin treu."

"Irgendwas läuft hier falsch": Im Sendlinger SPD-Büro rätselt man, warum die Wähler davonlaufen. (Foto: Foto: Alessandra Schellnegger)

81 Jahre alt ist sie, und immer hat sie SPD gewählt. Ihr verstorbener Mann auch. "Die anderen waren immer für die Großkopferten", sagt sie. "Die anderen" aber haben wieder einmal gewonnen, am Sonntag, bei der Europawahl, und die SPD hat verloren. An den Gästen im ASZ dürfte es nicht gelegen haben, auch am Tisch ganz hinten erzählt eine betagte Besucherin: "Der Vater hat gesagt: Wir sind Arbeiter, und ihr müsst immer SPD wählen." Seither macht sie bei den Roten ihr Kreuz, ein Kreuz aus Tradition. Aber mit der Tradition ist das so eine Sache: "An den Jungen hängt's", sagt eine Tischgenossin. Ein Wahlforscher könnte den Wandel der Zeit nicht besser auf den Punkt bringen.

Spurensuche in Sendling, einem Viertel, das mal ein Arbeiterquartier war und das man eine rote Hochburg nannte. Günter Pelkowski, Sozialdemokrat und Vorsitzender des örtlichen Bezirksausschusses, versucht erst gar nicht, den Anschein zu wecken, als wisse er genau, warum es mal wieder schiefgelaufen ist. Die SPD-Bilanz in seinem Viertel ist wenig ermutigend: Bei der Europawahl 1999 kamen die Sozialdemokraten in Sendling immerhin noch auf 31,9 Prozent, bei der Stadtratswahl 2002 verbuchten sie 45,5 Prozent der Stimmen.

Von da an ging's bergab, wobei die kommunalen Wahlergebnisse der Sendlinger SPD noch relativ gut waren: 39,9 Prozent bei der Stadtratswahl im vergangenen Jahr, 42,7 bei der Bezirksausschusswahl. Die letzte Europawahl war für die SPD schon ein Desaster: gerade mal 19,7 Prozent. Und jetzt 17,6 Prozent. Stärkste Partei sind die Grünen mit 29,6 Prozent.

Suche nach den Gründen

"Im Grunde", sagt Pelkowski, "weiß ich auch nicht, warum das so ist." An den Themen könne es nicht gelegen haben, auf Gerechtigkeit zu setzen, auf die Überwindung nationalstaatlichen Denkens gerade im Zeichen der Krise, das sei schon richtig gewesen. Als "nicht ganz so glücklich" habe er die Plakatierung empfunden. Anstatt sich mit ironischen Plakaten über die Konkurrenz lustig zu machen, hätte die SPD besser daran getan, ihre eigenen Qualitäten in den Vordergrund zu stellen.

Was aber die Situation in Sendling betreffe, so müsse man feststellen: "Das klassische Arbeiterviertel gibt es nicht mehr." Die Alten sterben allmählich aus, es ziehen junge Leute nach Sendling, Familien mit Kindern, die Krippen- und Hortplätze benötigen - mehr, als kurzfristig eingerichtet werden könnten. Und dieser Mangel werde "der Regierungspartei in München", also der SPD, zur Last gelegt.

Wer am Montag durch Sendling spaziert, vorbei an herausgeputzten Gründerzeitfassaden, liest die Boulevardschlagzeile "SPDebakel", sieht eines jener Plakate, auf denen ein 50-Cent-Stück einen Kopf ersetzt, über dem steht: "Dumpinglöhne würden CSU wählen." Und dann trifft man in einer kleinen Metzgerei zwei, die so gewählt haben. "Wer ist denn bei der SPD noch eine Persönlichkeit?", fragt hinter der Theke Wolfgang Helfert. Sein Kunde , 71 Jahre alt, hat gerade eine Flasche Augustiner im Regal abgestellt und verrät, dass er, obwohl aus dem Norden zugewandert, die CSU wählt. Aus so 'nem Gefühl heraus. Für die SPD aber habe er das nie entwickelt, dieses Gefühl vom Bauch her, nein. Beinahe aber hätte er nicht die CSU angekreuzt, sondern die Grünen.

Lesen sie auf der nächsten Seite, wie sich das Viertel verändert hat und die SPD dadurch ihr Klientel verliert.

Das Verschwinden des sozialdemokratischen Milieus, in dem man als Arbeiterkind - bildlich gesprochen - mit dem Parteibuch auf die Welt kam, beobachten viele, die in Sendling leben. Auch Heike Skok, Vorstandsmitglied der Wohnungsgenossenschaft Wogeno, weiß, wie sich die soziale Struktur des Viertels wandelt. Die jungen Zuzügler hätten eben andere Prioritäten als die klassische SPD-Klientel. Nicht Lohnkämpfe oder Mietwucher stünden im Vordergrund, sondern ökologische Themen. Die Mütter kauften im Bioladen ein, sie wollten wenig Verkehr und möglichst schadstoffarme Luft. Ökologische Politik brächten die Leute mit den Grünen in Verbindung.

Genau das hat auch Ernst Dill festgestellt, der seit 34 Jahren der SPD angehört und im Bezirksausschuss sitzt. "Nach Sendling ziehen junge Leute mit höherem Einkommen, die im Bioladen einkaufen und nicht beim Penny." Zwar kämpfe die SPD auch und gerade für diese Leute, sie mache sich für günstigen Wohnraum stark, für Verkehrsberuhigung und Begrünung, aber zugeordnet würden die Erfolge den Grünen. "Gefühlte Politik" nennt das Dill - ein eher intuitives Erfassen politischer Leistung, das nicht unbedingt die tatsächliche Politik widerspiegle. "Es gelingt uns nicht, diesen Leuten zu vermitteln, dass wir auch für sie Politik machen."

Erwin Winter kann sich denken, warum: "Die SPD ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt." Man trifft Winter in seinem Bioladen in der Daiserstraße, er ist durch und durch grün. Von der SPD vermisse er die Initiativen, auch hier im Viertel, und von einem Freund, der in die SPD eingetreten ist, habe er auch nichts wirklich Positives gehört: Denen ginge es, habe der Kumpel erzählt, vor allem um Pöstchen, und wer bei der nächsten Wahl kandidiert. Winters Mitarbeiter Franz, 37, wischt gerade ein Regal im Laden und erklärt nebenbei, warum er so enttäuscht sei von den Roten: Als sie noch mit den Grünen zusammen waren in Berlin, da habe die SPD auch nicht Politik für die kleinen Leute gemacht, sondern für die, die's eh schon haben.

Wie vor den Kopf gestoßen

Auf der Daiserstraße nach Süden stolpert man plötzlich fast über die SPD. Ein Fahrradständer vor dem SPD-Büro. Linker Hand ein Schaukasten an der Hauswand, hinter Glas hängen Sätze wie: "Politiker sind alle doof." Das steht unter der Überschrift "Politikverdrossenheit", und noch weiter unten kommt der Rat: "Mitmachen!" Geht heute am Montag eigentlich nicht, das SPD-Büro ist geschlossen, und doch geht die Tür auf.

Zufällig ist ein freundlicher Mann mit rotem Käppi auf grauem Haar anwesend. Er setzt sich an jenes Karree aus Naturholztischen, wo sie den Wahlkampf für den Münchner Süden organisiert haben. "Wir waren wie vor den Kopf gestoßen", sagt er über den Wahlabend. Er will seinen Namen lieber nicht verraten, will keinen Ärger, weil er doch nur ein einfaches Basismitglied sei. Dabei erzählt er bloß, wie ihnen bei Infoständen die Menschen freundlich begegnet seien. "Ich weiß es auch nicht", sagt der Mann, "es ist auch uns ein Rätsel."

Da scheint also eine Partei zu verschwinden, langsam, aber doch nachhaltig, und keiner weiß warum. Draußen, im Schaukasten, hängt noch so ein Satz, ein Vorurteil der Politikverdrossenen, ein Satz, der zum Mitmachen animieren soll. Dabei ist er eher eine Zustandsbeschreibung einer einst so stolzen Partei: "Irgendetwas läuft hier falsch."

© SZ vom 09.06.2009/dab - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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