Münchner Residenztheater:Nichts als Verlierer

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Blonde Engel des Krieges, Heimkehrer aus der letzten Schlacht, die noch nicht vorüber ist, Vagabunden ohne Zukunft - hier Simon Zagermann in der Uraufführung am Residenztheater, wo Alexander Eisenach den Roman von Oskar Maria Graf "Einer gegen alle" inszeniert hat. (Foto: Birgit Hupfeld)

Alexander Eisenach inszeniert am Münchner Residenztheater Oskar Maria Grafs Roman "Einer gegen alle" als dröhnendes Pandämonium

Von Egbert Tholl

Es hebt an eine Litanei, angesiedelt irgendwo zwischen Brecht und Kanzel, zwischen Bänkelgesang und Epos. Zwei Engel des Krieges stehen vor der Gaze, die den Bühnenraum des Residenztheaters verschließt, zwei hellblonde Heimkehrer aus der letzten Schlacht, die noch nicht vorüber ist. Sie tragen schwarze Ballkleider und kleine Rucksäcke, an denen selbstgebastelte Gas- oder Corona-Masken aus alten Plastikflaschen baumeln. Der eine, Elias Eilinghoff, zupft ein bisschen auf der Zither herum, imitiert Maschinengewehrknattern und Kanonenschüsse, der andere, Vincent Glander, sprechsingt den Beginn von Oskar Maria Grafs Roman "Einer gegen alle": Ein Mann kriecht hervor aus einer Torfhütte im Dachauer Moos, in der Ferne hört man die Kämpfe, die in München toben, Mai 1919, die Weißen schießen die Roten zusammen, die Räterepublik versinkt im Blut. Über die Gaze ziehen rote Schraffuren von Kriegsszenen, vom alten Ägypten bis zur Gegenwart, Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg, alle Kriege heute.

Graf veröffentlichte den Roman 1932, fünf Jahre nach seinem Durchbruch mit der rasenden, überbordenden, kraftstrotzenden Autobiografie "Wir sind Gefangene". Er wusste, was er damit anrichtete: "Es ist meiner Meinung nach ein sehr bedrückendes Buch, deshalb schon, weil dort nur der vollkommen vereinsamte Mensch sinn- und zusammenhangslos im Wirrwarr der Zeit steht und eben durch die Kriegserlebnisse gar nicht dazu kommt anders zu handeln als eben - einsam, losgelöst, zerfahren, nihilistisch."

"Einer gegen alle" blieb Grafs bestes unbekanntestes Buch, auch weil er in sein Zentrum eine Figur stellte, mit der Empathie zu empfinden einem wahrlich nicht leicht fällt. Und doch ist dieser eine, der hier, wenig glorreich, gegen alle kämpft, kein Einzelner, er steht für eine ganze Generation, für eine Schicht von Millionen, die jeden Glauben und jede Hoffnung verloren hat.

Der eine, um den es geht, hat zwar einen Namen und eine Herkunft, doch beides will er nicht mehr haben, als er aus dem Krieg zurückkommt. Er ist einfach der "Vagabund", er ist am liebsten allein, er stiehlt, raubt und mordet, letzteres um sich zu retten, er bescheißt eine Hure (gespielt von der völlig unzimperlichen Myriam Schröder) und macht danach mit ihr Geschäfte, kann mit dem vielen Geld nichts anfangen; er ist rastlos, ratlos und erhängt sich am Ende in der Gefängniszelle, kratzt zuvor an die Wand den Satz: "Krieg aus, Friede überdrüssig."

Graf schreibt in vielen Stimmen, fliegt manchmal hoch über dem Geschehen und analysiert die Zeit, taucht dann wieder tief hinein in die Spracherdfurchen der Landbevölkerung. Alexander Eisenach, der erfindungsreiche Regisseur dieser Uraufführung, durchforstete den Roman nach für ihn brauchbaren Passagen, fügt den Stimmen noch weitere hinzu, meist von Graf selbst, etwa, um dem Vagabunden mehr dramatisches Fleisch an die harten Knochen zu geben, aus "Wir sind Gefangene". So erklärt Christian Erdt nach der Eingangslitanei in einem langen Monolog das Prinzip des Kriegs vom Zorn des Achill bis zu Gavrilo Princip, dessen Attentat den Ersten Weltkrieg auslöste, der nie endet.

Mit Live-Videos über der Bühne rückt Alexander Eisenach die Protagonisten (hier Myriam Schröder) nah ans Publikum. (Foto: Birgit Hupfeld)

Sucht man bei Eisenach nach dem Geruch der Gegenden, die der Vagabund durchstreift, nach konkreten Szenen und Erlebnissen, so findet man wenig. Vielmehr erschafft er ein dröhnendes Pandämonium, ein herausgebrülltes Menetekel, einen wüsten Albtraum, dunkel schimmernd im Licht von Georgij Belaga.

Eilinghoff, Erdt und Glander sind als Trias der Vagabund, laut, gleißend, sind auch mal Proto-Nazis oder, entlehnt von Otto Dix, puppenhaft gieriges Volk, ausstaffiert mit Schnauzbartcoronamasken. Simon Zagermann ist meist der Bruder des Vagabunden, der nun fett auf dem Hof sitzt, weil der Ältere für tot erklärt wurde. Er spielt diesen Alois, dass man beim Schlierseer Bauerntheater vor Neid erblassen würde, grob, bairisch, laut, eklig und immer ein Bier oder einen Knödel bei der Hand. Er ist der Obmann der Einwohnerwehr, die immer auf der Suche nach einem Sozi ist, den man erschlagen kann, wobei der Alois lieber daheim vorm Kachelofen sitzt und im Warmen seine reaktionären Gedanken ausbrütet. In die Schlacht zieht Lukas Rüppel, herrlicher Multifunktionsschauspieler von der allerhöchsten Präzision, wie sie Eisenach für sein wüstes Gefunkel braucht.

Die Hälfte der Aufführung sieht man in einem trübfunzeligen Live-Video - das glaubte man nach der Lockdown-Streamerei eigentlich überwunden. Damit rückt Eisenach die Menschen auf der Bühne nah an die im Publikum, bis man sich ihrer nicht mehr erwehren kann. Da denkt man sich: So grässlich und haltlos und zerrissen wie damals ist unsere Zeit noch nicht. Aber vielleicht wird das noch.

© SZ vom 12.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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