Münchner Momente:Völlig losgelöst von den Schienen

Lesezeit: 1 min

Wenn eines Morgens keine Trambahn mehr fährt, darf sich in München niemand wundern - sondern sollte an den Kinderbuchautor James Krüss denken

Glosse von Stefan Simon

Sonst passiert es meistens ohne Vorwarnung: "Trambahnen temporär auf neuen Wegen" hat die Münchner Verkehrsgesellschaft gemeldet. Doch ausnahmsweise ging es da nicht um eine Panne. An die hat man sich über die Jahre gewöhnt, im Archiv finden sich, neben anderen Beispielen: ein Bus, der sich im Glockenbachviertel verirrte und dann in der Palmstraße feststeckte; der Eurocity München - Zürich, der auf der Premierenfahrt liegen blieb, als er auf ein nicht elektrifiziertes Gleis geriet; ja, und natürlich eine Tram, die am Stachus nicht links abbog, sondern rechts, und so zum Sendlinger Tor fuhr statt zum Lenbachplatz, zur großen Freude aller Fahrgäste.

Kann das wirklich alles Zufall sein? Bei der Antwort auf diese Frage hilft ein Blick in das Werk des Kinderbuchautors James Krüss, dem auf Schloss Blutenburg ein ganzer Turm gewidmet ist, aus vielen guten Gründen. Krüss' unternehmungslustige "Kleine, gelbe Straßenbahn" verlässt eines Nachts ihr Gleis, um einen Ausflug auf einem Strahl des Mondlichts zu machen: Sie klingelte und pingelte, als führ sie in das Glück. Hoch oben lässt sie, wie es sich gehört, alle einsteigen: Planeten, Sterne, Kometen und nicht nur die. Deshalb kommt's, wie's immer kommt: Man drängte sich wie toll. Als Kumulus, die Wolke kam, da war der Wagen voll. Auf Gedrängel und Geschrei folgt das Verhängnis. Da fiel die kleine Straßenbahn hinab mit ihrer Fracht. (...) Der Mann im Monde sagte nur: Das hab ich mir gedacht.

Eine lustige Geschichte, nur: Das "Temporär auf neuen Wegen" der MVG ist bedeutend langweiliger gemeint, leider. Wegen Gleis-, Straßen- und Oberleitungsarbeiten fahren die Linien blablabla, Sie wissen schon. Der Platz hier reicht nicht, um ins Detail zu gehen. Aber: Die Straßenbahnen werden wieder sehr enttäuscht sein. Es gibt von Krüss noch ein Gedicht, das können schon die kleinsten Züge auswendig. Es geht um eine Tram, die es leid ist, im immer gleichen Kreis zu fahren, und die irgendwann auf und davon fährt. An diesem Tage dachte sich ihr Straßenbahnverstand: Ich möcht mal zwischen Bäumen sein, im Grünen auf dem Land. Genau so wird es kommen: Eines Morgens werden alle Gleise leer bleiben, und dann darf sich in München bitte niemand wundern. Ob man etwas dagegen tun kann? Das weiß nur der Mann im Mond.

© SZ vom 05.10.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: