Münchner Momente:Chinesisches Bahnhofsorakel

Lesezeit: 1 min

Das rote Marienplatz-Zwischengeschoss erinnert nich nur an ein Bordell. oder die Hölle

Von Stephan Handel

Rot, rot , rot sind alle meine Marienplatz-Zwischengeschosse, und nachdem so ziemlich jeder, der da gerade mal zufällig durchging, öffentlich sein ästhetisches Urteil abgegeben hat über die Deckengestaltung, ist die Meinung der Bürgerschaft eindeutig: Den einen gefällt's, den anderen nicht. Die einen finden's modern und mal was anderes, den anderen ist es zu viel FC Bayern. Weil das Rot aber gar solchen Alarm macht, ist eine andere Botschaft im Deckendesign bislang kaum bemerkt worden.

In die roten Platten nämlich sind Lichtleisten eingelassen; sie bestehen aus längeren und kürzeren Linien, und der Kundige weiß, dass Ingo Maurer, der Lichtkünstler, sie beim Zeichnen nicht einfach zufällig unterbrochen hat oder weil auf dem Lineal der Zeigefinger im Weg war: Die Licht-Auslässe sind tatsächlich den Symbolen des uralten chinesischen I Ging nachempfunden, das ist ein Orakel - ebenso wie ein Buch der Weisheit. Wer wissen will, was ihm das Orakel rät, seien es Frauengeschichten, Berufswahl oder Wetterfestigkeit der Kleidung, der werfe sechs mal drei Münzen, notiere Kopf oder Zahl und ordne dann nach den Vorschriften Stäbchen oder Kugelschreiberstriche zu einem der 64 I Ging-Hexagramme. Er könnte zum Beispiel beim Zeichen Nummer sechs landen, drei durchgezogene Striche, ein unterbrochener, ein durchgezogener, ein unterbrochener. Dieses Zeichen symbolisiert das Warten und ist im chinesischen Kommentar - der bis ins dritte Jahrtausend vor Christus zurückreicht, also stimmen muss - mit der Erklärung versehen: "Wenn du wahrhaftig bist, so hast du Licht und Gelingen. Beharrlichkeit bringt Heil", wovon zumindest der zweite Satz beim Warten auf die S-Bahn von ewiger Wahrheit ist. So wandeln die Fahrgäste unter leuchtendem Rot und den Zeichen uralter Weisheit, was nie schadet. Und wenn's mal wieder dauert, kann er sich ans Zeichen Nr. 8 halten: Wer zu spät kommt, hat Unheil.

© SZ vom 30.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: