Als in Stuttgart über Monate hinweg Zehntausende Menschen auf die Straße gingen, war schnell der Begriff vom Wutbürger geboren. Denn diejenigen, die gegen den neuen, unterirdischen Bahnhof protestierten, gegen Stuttgart 21, kamen aus der Mitte der Gesellschaft; es handelte sich in der Mehrheit nicht um Berufsdemonstranten, die schon durch Sitzblockaden gegen Wackersdorf, Brokdorf oder Gorleben geübt waren.
In München, wo die Bürger am Sonntag den Bau einer dritten Startbahn für den Flughafen verhindert haben, gab es diese Wut nicht. Ja, man hatte in den vergangenen Wochen bisweilen den Eindruck, als interessiere sich der gemeine Münchner mehr für die neue Biergartensaison oder das Champions-League-Finale als für den Bau einer neuen Piste weit draußen im Erdinger Moos. Doch am Sonntag haben die Münchner Bürger überraschend deutlich gesagt, was sie von der Erweiterung des Flughafens, von diesem ehrgeizigen Wachstumsprojekt in ihrer schönen, wohlhabenden Heimat halten - nämlich nichts.
Das Nein zur dritten Startbahn, die aus dem Flughafen Franz Josef Strauß einen Airport gemacht hätte, der so groß wäre wie der in Frankfurt am Main heute - dieses Nein wurde mehrheitlich nicht von Wut getrieben, sondern es kam vor allem von Wohlstandsbürgern, die meinen, München gehe es doch schon gut genug.
Warum, so fragen sie, soll diese Metropole weiter wachsen? Warum sollen noch mehr Unternehmen herziehen, wo es schon Siemens und Microsoft, BMW und General Electric gibt? Warum soll der Großraum noch größer, warum das Umland weiter zersiedelt werden? Warum sollen entlang des Autobahnrings, der München umschlingt, noch mehr praktische, aber hässliche Megamarkt-Ansammlungen entstehen, wie man sie einst nur aus den USA kannte? Und warum sollen noch mehr Menschen hier landen, die noch mehr Geld mitbringen, wenn am Ende bloß die Mieten weiter steigen und die Gentrifizierung ganzer Stadtviertel voranschreitet?
Die Münchner haben, auch wenn sie nicht monatelang demonstriert haben, letztlich ähnliche Fragen gestellt wie die Bahnhofsgegner von Stuttgart, wie die Flughafengegner von Frankfurt oder wie die Bürger im vornehmen Südwesten Berlins, die dagegen protestiert haben, dass die Einflugrouten für den neuen Großflughafen über ihre Gärten führen. Sie alle fragen sich: Muss das sein?
Sie alle wollen sich ein Stück Heimat und Geborgenheit bewahren, zumal in einer Zeit, in der die Welt finanziell am Abgrund steht. Diesen Menschen, die aus der Mitte des Bürgertums kommen, fällt es schwer, ständig neuen Wohlstandsversprechen zu folgen, die von Politikern und Unternehmensführern verbreitet werden. Sie stemmen sich nicht bloß gegen einzelne Großprojekte vor ihrer Haustür (und der Münchner Flughafen ist ja nicht mal vor ihrer Haustür), sondern auch gegen einen übertriebenen Fortschrittsglauben.
Deshalb haben die Bürger in Stuttgart, Frankfurt oder Berlin protestiert; deshalb gibt es die Occupy-Bewegung; und deshalb verfängt es auch nicht mehr, wenn eine liberale Partei wie die FDP viel über Wachstum schwadroniert, aber nur noch wenig über Bürgerrechte redet. Man kann diese wachstumskritische Haltung bemängeln und ablehnen, weil es ja auch darum gehen muss, wo und wie Arbeitsplätze entstehen.
Man darf den Bürgerprotest, der aus dieser Haltung erwächst, aber nicht ignorieren. Denn hier zeigt sich eine neue Form der Bürgerbeteiligung, des gesellschaftlichen Engagements, aber auch des Konservatismus. Wenn Bürger sich gegen Groß- und Größtprojekte wehren, sind sie jedenfalls im besten Sinne konservativ: Sie wollen ihre Heimat, die ihnen Halt gibt, bewahren; sie lehnen den Fortschritt nicht völlig ab, aber sie wollen, dass es behutsamer vorangeht.
Dass diese Fortschrittsskepsis in Teilen des Bürgertums sich ausgerechnet in München so deutlich offenbart hat, mag manche überraschen. Denn die bayerische Landeshauptstadt galt nicht erst seit Edmund Stoiber, dem Wirtschaft über alles ging, als der ökonomische Hot Spot der Republik; als deutsches Silicon Valley; als Standort von vielen Dax-Konzernen und noch mehr trendigen Neugründungen; als Vorbild für andere Städte des Landes, nicht zuletzt Berlin.
Andererseits sind die Münchner Bürger sich oft auch selbst genug. Sie lieben es zu leben und leben zu lassen; sie wirken bisweilen selbstgefällig und - eine Folge des jahrzehntelangen Booms - auch mehr und mehr saturiert. Auswärtigen erscheinen sie deshalb bisweilen als arrogant, aber die Münchner schert das nicht, sie kontern mit einem: "Mia san mia" - wir sind wir. Dass ausgerechnet der FC Bayern sich diesen Slogan auf seinen Plakaten, Webseiten und Emblemen zu eigen gemacht hat, zeigt übrigens die ganze Zwiespältigkeit der Münchner: Sie wollen sich ihre Heimat bewahren, aber zugleich die Besten sein. Beides passt, wie man gerade im Fußball und nun auch beim Bürgerentscheid gesehen hat, nicht immer zusammen.
"Mia san mia" - dieser Satz kündet von Bodenständigkeit. Letztlich könnten ihn auch die Wut- und Wohlstandsbürger in Stuttgart, Frankfurt oder Berlin übernehmen. Auch sie wollen, dass es ihnen gutgeht, aber sie wollen nicht Wohlstand um jeden Preis.