Vor Gericht:Schnapsflasche bei den Spielsachen

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Im Prozess wegen 156-maliger Vergewaltigung sagt das mutmaßliche Opfer aus

Von Susi Wimmer

Michelle P. wirkt unscheinbar, eine untersetzte Frau mit braunen kurzen Haaren und Brille. Mit leiser Stimme und nahezu emotionslos berichtet sie von ihrem Leben mit Tarlochan S. Wie er sie ins Gesicht schlug, dass ihr die Brille davonflog und verbogen war, wie er die gemeinsame Tochter am Ohr zog, dass es einriss, und wie er nachts Pornos sah und sie dann weckte. "Anfangs hab' ich mich gewehrt, später nicht mehr", sagt Michelle P. Tarlochan S., 42 Jahre alt, sitzt vor der 20. Kammer des Landgerichts München I, er ist angeklagt, seine ehemalige Lebensgefährtin in mindestens 156 Fällen vergewaltigt zu haben.

Während Michelle P., die im richtigen Leben einen anderen Namen hat, vor Gericht aussagt, wird Tarlochan S. in ein Nebenzimmer gebracht. Laut ihrer Anwältin Eva Loy-Birzer gehe es der Mandantin psychisch sehr schlecht, sie könne den Anblick des Angeklagten nicht ertragen. Per Videoschalte kann Tarlochen S. sehen und hören, was im Gerichtssaal vor sich geht - und bleibt für Michelle P. unsichtbar. "Wir waren zusammen ein Paar", so fängt die 49-Jährige an. Sie habe S. im Herbst 2006 über ihren Schwager kennengelernt, der ebenfalls aus Indien stamme. Eine Woche später seien sie ein Paar gewesen. Tarlochan habe im Asylbewerberheim gelebt. Im Jahr darauf zog man zusammen und Tochter Julia kam zur Welt. "Am Anfang war alles harmonisch", erzählt die Zeugin.

Doch Tarlochan S. habe angefangen zu trinken, "er hat die Schnapsflaschen bei den Spielsachen unserer Tochter versteckt". Als ihre Tochter Julia ( Name geändert ) etwa vier Jahre alt war, sei Tarlochan S. immer aggressiver geworden. "Er hat mich als Schlampe beschimpft", und habe mit dem Fuß zugetreten. Die Tochter habe er regelmäßig so heftig auf den Rücken geschlagen, dass sie in Atemnot geraten sei.

Weil ein Freund von Tarlochan S. mit in der Wohnung wohnte, schlief das Paar mit der Tochter in einem Zimmer. "Ich ging früh zu Bett", erzählt die Zeugin. Wenn ihr Partner nach Mitternacht betrunken ins Bett kam, habe er auf dem Handy Pornos geschaut, mit Kopfhörern, sie umgedreht und ihre Beine auseinandergedrückt. "Ich hab ihn getreten, hab ihm gesagt, dass ich das nicht will, aber das war ihm egal." Irgendwann habe sie aufgehört, sich zu wehren, und alles über sich ergehen lassen. Nach einem Suizidversuch im Mai 2019 vertraute sie sich im Krankenhaus einer Ärztin an, die riet zur Anzeige.

Warum sie die Beziehung nicht beendet habe, will Verteidigerin Birgit Schwerdt wissen. "Ich hab ihn öfter rausgeschmissen, aber er ging nicht." Am Ende darf Tarlochan S. Fragen an die Zeugin stellen. Aber er sagt nur: "Sie lügt, weil meine indische Frau kommt. Deshalb macht sie Theater." Denn S. hatte 2015 in Indien geheiratet, dort ebenfalls eine Tochter gezeugt. "Er wollte, dass wir alle zusammen leben, aber das wollte ich nicht", sagt Michelle P. Weitere Zeugen sind für kommenden Dienstag geladen.

© SZ vom 18.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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