Nach vier Stunden Probe im Kinosaal der Münchner Filmhochschule packen sie den Wein aus, was hier wahrscheinlich gar nicht stehen dürfte, weil es einen sehr strengen Technik-Professor gibt, der ausrasten würde, erführe er von offenen Getränken auf den roten Sesseln. Aber es hat lang genug gedauert, bis sie wieder zusammenkommen konnten, Julien Hebenstreit, Marius Bacza und Falk Müller, darauf kann man also durchaus anstoßen, und überhaupt, wie genial ist bitte ein Kino für sich allein, eine Musikprobe im Audimax einer Hochschule, das eine größere Leinwand und mehr Sitze hat als so manches Kleinstadtkino. Normalerweise feiern Filmstudenten hier Premieren und Oscar-Nächte wie im Wohnzimmer, lauschen Vorlesungen zur Filmgeschichte, die von Absolventen Jahre später noch als legendär bezeichnet werden. Filmgeschichte bei Michaela Krützen? Kolossal! Manchmal tritt hier auch die "Filmcombo" auf. Oder probt - wie an diesem Abend - im weißen Wollpulli und blauen Hoodie, an Klavier, Geige und Posaune, während neben ihnen Schwarz-Weiß-Bilder über die Leinwand rauschen.
Die "Combo", das sind zwei Drehbuchautoren und ein Regisseur, zugleich fähige Musiker, die 2017 von Professorin Krützen gebeten wurden, ihre Stummfilm-Vorlesung aufzumischen. "Herr Hebenstreit, Sie sind doch Pianist, komponieren Sie mal!" Julien Hebenstreit, der so bescheiden ist, dass seine Stimme etwas leiser wird, wenn er sagt, dass er schon mit vier am Klavier saß, also seit 20 Jahren spielt, holte sich Posaune und Geige dazu, Marius Bacza, 28, und Falk Müller, 32. Zusammen vertonten sie live vor Publikum Buster Keatons Slapstick-Komödie "Sherlock Jr." von 1924. Eine spaßige Sache war das, warum also nicht wiederholen, dachten sie, und machten mit "Sherlock Jr." Klingelputz bei Kinos in Deutschland, in Gera, in Leipzig, in München, jedenfalls taten sie das, bevor aus hinlänglich bekannten Gründen zwei Jahre lang die Kultur zum Erliegen kam.
Ihre Idee: Drei junge Filmemacher geben Stummfilmkonzerte zu Klassikern, die kaum jemand aus ihrer Generation kennt, Filmpädagogik als Unterhaltung quasi. Die viel größere Idee dahinter, die sie selbst bislang gar nicht so bedacht haben, ist aber: Drei junge Filmemacher rehabilitieren mit Live-Konzerten das Kino in seiner Urform. Die "Combo" könnte ein Versuch sein, das Netflix-verwöhnte Streaming-Publikum in die Lichtspielhäuser zurückzuholen. Wenn die Überforderung der Postmoderne zu groß wird, kommt irgendwann die Rückbesinnung in die Einfachheit. Eine Implosion mit dem Urknall am Ende.
Buster Keaton ist da die denkbar schlaueste Wahl, Komödie sowieso, da traut sich ja kaum ein Filmemacher der Gegenwart ran, was man feststellt, wenn man sich mal das Programm des Nachwuchses auf Filmschulfestivals ansieht. Die einzig lustigen Filme sind Animationsfilme, deren Macher sich im Anschluss die Frage gefallen lassen müssen, ob das Drehbuch im Suff entstanden sei.
Der Witz des Buster Keatons, der in "Sherlock Jr." in 45 Minuten vom Kinovorführer zum Möchtegern-Detektiv aufsteigt, um die Gunst des schönen Nachbarmädchens zu gewinnen, mit explosiven Billardkugeln hantiert und minutenlang fahrerlos auf dem Lenker eines Motorrads vor seinem Nebenbuhler flüchtet, funktioniert auch 100 Jahre nach seiner Entstehung. Keaton reduzierte die Schrifttafeln in seinen Stummfilmen auf so wenige wie möglich. Der Gag muss visuell zünden. Braucht er Worte, ist er nicht gut genug. Buster Keaton ist der Inbegriff der stoisch vermittelten "Show, don't tell"-Predigt, Zeigen statt Erzählen, er legte die Grundlage für so vieles, was heute Standard und in diesem Sinne eigentlich nur noch Wiederholung ist. Traurig, aber wenn man Originalität sucht, muss man zurück in die Vergangenheit.
Im Jahr 2022 finden Menschen in den Kinos Superheld-Blockbuster Nummer 17 und auf Netflix mittelmäßige Massenware, sie können Filme auf ihren Smartphones ansehen, während sie auf den Bus warten oder in der S-Bahn sitzen, sie schauen "Im Westen nichts Neues" mit dem Laptop auf dem Schoß und scrollen nebenbei durch Instagram oder Tinder, mal eben fünf Mädels und Jungs nach rechts wischen, während auf dem Bildschirm Soldaten krepieren. Für Alejandro-Iñárritu-Dramen, die man sich zwei Wochen später auf dem heimischen 65-Zoll-Fernseher im Streamingangebot ansehen kann, zahlen die Leute keine Elf-Euro-Tickets mehr. Die Kinosäle sind jedenfalls nicht nur gefühlt, sondern tatsächlich mäßig gefüllt, was sich an den rückläufigen Besucherzahlen der vergangenen Jahre ablesen lässt, die die Filmförderanstalt (FFA) regelmäßig veröffentlicht. Und dieser Trend begann bereits, als Corona für die Leute einfach nur Bier war.
Im Audimax jammert Falk Müller gerade auf seiner Violine, während auf der Leinwand Buster Keatons Angebetete ihren Ehering skeptisch mit der Lupe inspiziert. Falk gibt den Ton an, wie die erste Geige im Orchester. Er raunt Julien zu, wann er ein bisschen schneller spielen soll oder langsamer, vielleicht, weil er der Älteste ist und der, dessen Nummer man als erstes findet, wenn man Kontakt zur Band aufnehmen will. Eigentlich ist Julien am Flügel derjenige, der das Schema vorgibt. Er spielt die Harmonie, Falk die Melodie, und Marius mit seiner Posaune ist der Bass, "der Knall", wie er selbst sagt, unverzichtbar bei Szenen, in denen Buster Keaton als Sherlock Jr. mit dem Auto davon rast und den Motor aufheulen lässt. Falk sagt, "Geige und Posaune antworten auf Klavier", sie kommunizieren mit ihren Instrumenten, folgen einer Grundkomposition, mischen Tango mit Helene Fischers "Atemlos" und dem Titanic- und Star-Wars-Soundtrack. Der Rest ist Improvisation, damit bewahren sie sich Freiräume. Falk sagt: "Wir ziehen dem Oldtimer neue Reifen auf", damit man nicht auf die Idee kommt, die drei schwelgten lediglich in Nostalgie an die gute alte Zeit, als die Menschen noch so viel Ehrfurcht vor dem Kino hatten, dass sie vor einfahrenden Zügen auf Leinwänden in Deckung gingen.
Auch sie glauben, dass sich das Kino mehr denn je als "Lagerfeuer-Ort" etablieren muss, zu einem Ort des Events, den man aufsucht, um später noch ein Gläschen Wein im Anschluss zu trinken, nicht auf der Couch im Heimkino mit der Katze versackt. Julien könnte sich "Netflix Bars" vorstellen. Auch so etwas, was man hier eigentlich nicht schreiben sollte, weil jetzt bestimmt einer zum Patentamt rennt und sich die Idee unter den Nagel reißt, die ist nämlich ziemlich clever: Leute kommen wie beim Tatort am Sonntagabend zusammen, um eine neue Folge "Stranger Things" zu schauen.
Der Stummfilm war für Zeitgenossen "Illusionskino", das Ticket die Eintrittskarte zu einem Konzert mit netten Bildern, weniger zu einem Film, von dem man sich eine möglichst lebensnahe Handlung erwartete. Das Kino verschluckte das Publikum in eine unwirkliche Welt gleich eines Traums. Viele bedauerten den Übergang zum Tonfilm, so wie heute Cineasten bedauern, dass die Kinos leer sind, weil alle auf Netflix rumhängen und Film ein Nebenbei-Medium geworden ist. Kunsthistoriker Erwin Panofsky bekannte sich mal zum Heimweh nach dem Stummfilm. Guckt man den drei Combo-Jungs beim Proben zu und sieht, wie viel Heiterkeit ein 45-Minuten-Stummfilm-Konzert bescheren kann, ahnt man, was er damit gemeint haben könnte: Heimweh nach einer Zeit des Attraktionskinos, als der Horror der Realität nicht auch noch in der Fiktion auftauchte, sondern versüßlicht wurde durch Verfolgungsjagden, bei denen sofort klar ist, dass hier höchstens einer vom Motorrad gehaucht wird und lachend auf einer Blumenwiese landet.
Das Empfinden von Heimweh sei aber kein Argument gegen das Neue. Die Entwicklung der Filmgeschichte habe gezeigt, dass in der Kunst jeder Gewinn einen gewissen Verlust am anderen Ende nach sich zieht. Es sei nützlich, sich dem Neuen mit demselben Interesse zuzuwenden, wie es dem Alten gebührt. Und genau genommen ist es ja nicht der Film, dem es gerade nur so mittelmäßig geht, gedreht wird wie am Fließband. Es ist die Institution Kino. Einen Spross für ihre Rettung glaubt man, im Audimax der Filmhochschule entdeckt zu haben. Darauf ein Glas Wein.