Streetdance:Alles gerät in den Hintergrund

Lesezeit: 5 min

Lamine Gassama, 25, tanzt überall. An der Uni, vor Museen, an der nächsten Straßenecke - an jedem Ort, der Raum bietet für die ausholenden Arme, die vielen Schritte und Drehungen. (Foto: Mark Siaulys Pfeiffer)

Lamine Gassama tanzt jeden Tag auf Münchens Straßen - allein. Doch nun trifft er sich einmal die Woche im Kunstareal mit Gleichgesinnten, um gemeinsam das Geheimnis von House-Musik zu spüren. 

Von Rashidah Hassen

Er tanzt fluide, alle paar Takte in eine andere Richtung. Den Blick mal nach vorne gerichtet, dann in den Himmel. Es ist früher Dienstagabend. In der Nähe vom Königsplatz bewegt sich München in den Feierabend, begleitet von den Songs aus der Box vor Lamine Gassama. Die vorbeilaufenden Menschen und neugierigen Blicke scheint der 25-Jährige nicht zu bemerken. Die helle Fallschirmhose fliegt hinter jeder Bewegung her, die langen Arme in einer Jacke aus demselben Material, die aussieht wie aus den Achtzigerjahren. In der Pandemie begann Lamine, täglich draußen zu tanzen: "Der Ort ist nicht so wichtig, es geht einfach darum, bei mir zu sein."

Anfangs störte es ihn, alleine zu tanzen, inzwischen schätzt er es sehr. "Eine Zeit lang gab es in München nicht so viele House-Tänzerinnen und -Tänzer, da musste ich alleine tanzen. Ich habe mich dabei sehr einsam gefühlt. Jetzt mag ich es sogar, weil ich den Raum und die Zeit habe, mich nur auf die Musik zu konzentrieren und darin meine Gefühle zu erkunden." Lamine tanzt überall. An der Uni, vor Museen, an der nächsten Straßenecke. An jedem Ort, der Raum bietet für die ausholenden Arme, die vielen Schritte und Drehungen.

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Die Reaktionen der vorbeigehenden Passanten fallen unterschiedlich aus: Manche möchten reden, machen Fotos, andere ignorieren Lamine. Vor dem Lenbachhaus geben ältere Damen ihm manchmal Geld, "davon kaufe ich mir ein Eis", erzählt er und lacht. Aber es gab auch weniger schöne Begegnungen: "Ich lag dort auf dem Boden, weil ich mich so verausgabt hatte. Da kam eine Passantin und hat geschimpft: ,Diese Arbeitslosen!' Erst habe ich mich natürlich angegriffen gefühlt. Dann habe ich gedacht, dass es auch an sich schade ist, Arbeitslosigkeit so zu stigmatisieren - Arbeitslosigkeit kann viele Gründe haben."

Ob es das Umfeld zu so einer Antwort zwingt, wenn Lamine sich so offen zeigt? "Es provoziert schon, was ich da mache", gibt er zu. Gleichzeitig sei diese Form des Ausdrucks "das Heilsamste, was ich für mich tun kann", sagt er: frei vom Druck des Studiums und den hohen Selbstansprüchen zu erkunden, wohin ihn die Musik führt. "Da steckt teilweise schon sehr Persönliches dahinter, auch in der eigenen Identität." Im Tanz habe er den Raum, diese Fragen auszuhandeln; es fördere seine "Ambiguitätstoleranz", wie er sagt: "So lerne ich, diese inneren und äußeren Widersprüche auszuhalten."

Lamine Gassama improvisiert, aber komplett selbstbestimmt ist sein Tanz nicht: "Da gibt es immer ein Spannungsfeld zwischen dem, was ich sagen möchte, und wie ich es so transportiere, dass es bei anderen Leuten ankommt und ihnen gefällt." (Foto: Mark Siaulys Pfeiffer)

Für Lamine ist es wichtig, sich dabei nicht zu verstellen. "Ich sehe die Herausforderung im Tanz darin, mich immer wieder zu fragen: Entwickle ich mich weiter? Bin ich wirklich authentisch?" Lamine überlegt für einige Sekunden. "Andererseits würde ich nicht sagen, dass mein Tanz komplett selbstbestimmt ist. Da gibt es immer ein Spannungsfeld zwischen dem, was ich sagen möchte, und wie ich es so transportiere, dass es bei anderen Leuten ankommt und ihnen gefällt."

Die Zeit dafür zu haben ist für Lamine, der gerade an der TU München seinen Master in erneuerbaren Energien macht, ein Privileg. "Ohne mein Stipendium der Heinrich-Böll-Stiftung könnte ich das neben dem Vollzeitstudium gar nicht machen", sagt er.

"Meine Mutter war ein großer Michael-Jackson-Fan. Um ihr zu imponieren, habe ich ihn nachgemacht."

Als Kind habe er schon immer getanzt. "Meine Mutter war ein großer Michael-Jackson-Fan. Um ihr zu imponieren, habe ich ihn nachgemacht und dann gefragt: ,Wer ist besser?' Und sie: ,MJ!' Das wollte ich mir nicht gefallen lassen und habe angefangen, zu trainieren. Dann haben mich noch Filme wie ,Step Up' begeistert, auch wenn die sehr klischeehaft sind." Erst später habe er Tanzschulen ausprobiert und schon damals lieber improvisiert als Choreografien zu folgen: "Sie waren mir zu einschränkend." In der Tanzschule "Streetlove Dance Academy" kam Lamine zu der Richtung, die sich vor allem durch Freestyle, aber auch "Footwork" und "Jacking", wellenförmige Bewegungen des Oberkörpers, charakterisiert.

House stammt aus den USA der späten Siebzigerjahre, mit Wurzeln in der Disco-Musik. Diese wiederum wurde stark geprägt von Schwarzen, Latino und queeren Kunstschaffenden. Der Name stammt vermutlich von dem Club "Warehouse" in Chicago, der als einer der ersten begann, House zu spielen. Auch in den Clubs von New York City, wo sich der Tanzstil vor allem entwickelte, wurde House schnell populär. In einer Zeit, in der sich viele dort gegen die Disco-Kultur wandten, wurde House ein neuer Zufluchtsort für diejenigen, die sich trotzdem frei ausdrücken wollten - vor allem queere Personen und BIPoC.

"Durch die Musik, den Puls, sind wir alle in diesem Moment verbunden."

Für Lamine liegt darin die Schönheit: "Durch die Musik, den Puls, sind wir alle in diesem Moment verbunden, ohne zu wissen, was die Eltern gemacht haben, oder auch wichtigeres, wie politische Einstellungen. All das gerät für einen Moment in den Hintergrund. Marjory Smarth, eine bekannte House-Tänzerin, hat es mit einem Picknick verglichen: Jeder bringt mit der eigenen künstlerischen Identität etwas für alle mit."

Ein Mittwochabend im im Kunstareal: Lamine steht hinter der Pinakothek der Moderne und verbindet die Box mit dem Handy - mehr braucht es nicht. Jetzt wartet er auf die anderen. "Einen Ort, wo regelmäßig nur House gespielt und getanzt wird, gibt es in München noch nicht", sagt Lamine. "Bock auf House" entstand, um genau diesen Ort zu schaffen. Mit der Mitgründerin Selina Kron und Helferinnen und Helfern wie Cataleyá Pavljuk und Kenshu Hirano organisiert Lamine seit einigen Wochen die offenen Treffen zum gemeinsamen Tanzen. Inzwischen ist es eine Gruppe von ungefähr zehn Personen, die jede Woche zusammenkommt. Unterstützung bekam sie anfangs vom Jugendtreff Harthof, noch bevor es wärmer wurde und die Treffen draußen stattfinden konnten. "Da sind wir sehr dankbar dafür. Es ist schwer, Räumlichkeiten zu finden."

Neu ist, dass gespendet werden kann. Das Geld geht an Vereine, die sich für den Klimaschutz einsetzen. "Ich finde es wichtig, dass wir hier nicht nur tanzen und so tun, als ob es in der Welt keine Probleme gäbe."

Beim Aufwärmen läuft "African Healing Dance" von Wyoma, At One und AtJazz. Die meisten Teilnehmenden stehen im Kreis, andere weiter außen, der Bass begleitet ihre Moves. Selina und Lamine machen neue Bewegungen vor, geben Tipps. Jeder Schritt sieht leicht aus, erfordert aber sichtlich viel Konzentration.

Jeden Mittwoch trifft sich eine Gruppe Gleichgesinnter hinter der Pinakothek der Moderne, um House zu tanzen. (Foto: Mark Siaulys Pfeiffer)

Die Gruppe ist bunt gemischt: Ein Teilnehmer hat über Kommilitonen von der Veranstaltung erfahren und sich spontan entschieden, noch am selben Abend vorbeizuschauen. Eine Tänzerin, die neu in München ist, konnte hier Anschluss an die Szene finden: "Hier kann ich einfach vorbeikommen und mich ausprobieren." Lamine steht ihr gegenüber, imitiert ihre Bewegungen und fügt neue Schritte hinzu.

Beim nächsten Song tritt Lamine zurück, beobachtet die tanzende Gruppe. Sie jubeln sich zu, wenn jemand etwas Außergewöhnliches wagt, konzentrieren sich dann wieder auf sich, immer im Rhythmus. "Das ist fast wie früher", kommentiert Lamine leicht außer Atem, mit einem breiten Lächeln. Früher, das ist seine Vorstellung davon, wie es wohl im Warehouse und an ähnlichen Orten gewesen sein muss. Eine Atmosphäre, die nicht mehr nur in schwach beleuchteten Aufnahmen aus vergangenen Jahrzehnten existiert: Menschen, die zusammenkommen, um die Musik zu genießen und sich auszudrücken - weil sie Lust darauf haben.

Am nächsten Morgen geht es für ihn vor die eigene Haustür, vielleicht eine Straße weiter. Dann tanzt Lamine alleine, mit der Aufmerksamkeit wieder ganz bei sich.

"Bock auf House", mittwochs, 19-21 Uhr, hinter der Pinakothek der Moderne

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