Glosse:Wie die MVG das Zeitreisen erfand

Lesezeit: 1 min

In Bus und Bahn verschmelzen theoretische Physik, Science-Fiction und Realität jeden Tag aufs Neue. Die Münchner Verkehrsbetriebe nutzen das und machen daraus einen neuen Service.

Von Stefan Simon

Wem die Relativitätstheorie zu kompliziert ist, dem sei die BBC-Kultserie Doctor Who empfohlen - oder eine Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln in München. In Bus und Bahn verschmelzen theoretische Physik, Science-Fiction und Realität jeden Tag aufs Neue. Ein Beleg sind die Fahrpläne, die seit dem Wochenende an den Haltestellen der MVG aushängen. Auf diesen sind jetzt kleine quadratische Muster aufgedruckt, QR-Codes. Wie die Verkehrsbetriebe mitteilen, kann man mit Hilfe von Quadrat und Handy künftig die "Echtzeitdaten zu aktuellen Abfahrtszeiten" ermitteln. Echtzeit?

Tatsächlich dürfte diese Echtzeit in vielen Fällen eine Falschzeit sein, sonst bräuchte es das Ganze wohl nicht. Und die Frage ist, in welcher dieser Zeiten man sich als Fahrgast gerade aufhält. "Zeit vergeht nicht, der Lauf der Zeit ist eine Illusion", sagt der Doctor, ein außerirdischer Reisender durch Raum und Zeit. Er kennt sich mit diesen Dingen aus: "Du erinnerst dich, dass du gestern am Leben warst, und du hoffst, dass du morgen noch am Leben bist. Deshalb fühlt es sich an, als würdest du von einem Tag zum anderen reisen. Aber niemand bewegt sich irgendwo hin." Das ist nichts anderes als das jahrhundertealte Dilemma der Physik - und eine verblüffend genaue Beschreibung einer U-Bahn-Fahrt mit den Linien U3 und U6 im Berufsverkehr. In eine Formel gebracht: E = mvg².

Wenn aber eine U-Bahn nicht der tatsächlichen Abfahrtszeit folgt, sie sich also in einer Echtzeit bewegt, die in Wahrheit eine Falschzeit ist: Was passiert dann beim Umsteigen in eine Tram, die pünktlich ist und sich in einer ganz anderen Version der Echtzeit bewegt? Vielleicht sind Zeitreisen am Ende doch möglich. Oder Reisen zu Paralleluniversen, deren Existenz jeweils um ein paar Minuten zueinander verschoben ist. Und wenn ein Bus zu früh abfährt und sich seine Zeitlinie mit der einer verspäteten Trambahn kreuzt, wenn also positive auf negative Echtzeit trifft, ähnlich wie Materie auf Antimaterie, was dann? Wird alles neutralisiert, kommt es zum Urknall, zur Supernova, zu einem neuen Tarifsystem? Vermutlich gibt es in München deshalb jede Nacht einen Betriebsschluss. Weil auch die Zeit manchmal ein bisschen Zeit für sich braucht.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: