Typisch deutsch:Bussi in Bus und Bahn

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Dürfen die das? Na klar! Aber weil Küsse in der Öffentlichkeit in Syrien verboten sind, hat es gedauert, bis sich unser Autor Mohamad Alkhalaf an das Bild gewöhnt hat. (Foto: dpa/Rainer Jensen)

Unser Autor aus Syrien hat das Münchner Kussverhalten vier Jahre lang analysiert. In seiner Heimat war Knutschen in der Öffentlichkeit verboten, langsam wird auch er lockerer.

Kolumne von Mohamad Alkhalaf

Es war meine erste Woche in München; die Szene ereignete sich in einem S-Bahn-Abteil. Mir gegenüber saßen ein Mann und eine Frau. Plötzlich, ohne mich vorzuwarnen, begannen sie damit, sich zu küssen. Ich war schockiert, so etwas war ich nicht gewohnt. In Syrien küsst man sich nicht in der Öffentlichkeit. Haben die kein Zuhause und treffen sich deswegen in der Bahn? Es war zu befürchten, dass es gleich zum öffentlichen Liebesspiel kommen würde. Auf alles war ich in Bayern vorbereitet, aber nicht auf so etwas.

Sehr bald ist mir dann dieser Satz begegnet: "Habt's ihr koa Schlafzimmer?" Der Bayer wendet ihn an, wenn ihm eine zwischenmenschliche Zuneigungsbekundung zu intensiv wird. Anderntags, wieder in der S-Bahn, habe ich zwei Senioren beobachtet, wie sie sich umarmten und dann auf den Mund küssten. Also stellte ich ihnen die Schlafzimmerfrage. Sie schauten mich entgeistert an. Um mich herum sah ich in grinsende Gesichter. Peinlich berührt schaute ich zur Decke des Zuges, als ob nichts gewesen wäre. Ich pfiff ein bisschen und schaute mir solange Anzeigen auf dem Monitor über mir an, bis ich einen Krampf im Hals bekam.

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Mit jeder Bus- oder S-Bahn-Fahrt wuchs die Erfahrung. Ich erinnere mich an ein Pärchen, das Kussgeräusche von sich gab, die im Rhythmus mit dem Fahrgeräusch der Bahn das Abteil füllten. Es war wie eine Symphonie.

Jeden Tag sehe und höre ich mir diese Symphonien an. Wie kleine Orchester, nur dass es keinen Dirigenten braucht, weil die Küssenden dieser Stadt alle Freiheiten der Welt haben. Würde man in Syrien einer Frau in der Öffentlichkeit einen Kuss geben, spräche man von einem "Kratzer für die Keuschheit". Im syrischen Fernsehen werden Kussszenen aus Filmen herausgeschnitten. Dort finden die Symphonien ohne Publikum statt.

Kein Wunder also, dass mich ein Kuss in München anfangs viel Überwindung gekostet hat, dabei ist es eigentlich gar nicht so kompliziert. Wenn ich nun mit meiner Frau in der Stadt spazieren gehe, gebe ich ihr manchmal einen kleinen Kuss. Mittlerweile ist es nichts Außergewöhnliches mehr, auch kein Vorspiel für Intimeres, sondern ein Ausdruck von Emotionen. Für viele Münchner ist es gar ein Bedürfnis, ab und an vor allen anderen vom Partner geküsst zu werden. Wenn der FC Bayern ein Tor erzielt, gebe ich meiner Lieben ein Küsschen. Und wenn sie in der Geisterbahn Angst hat, lege ich meinen Arm um sie.

Küsse sind ein Ausdruck von Vielfalt: der französische Kuss, der Luftkuss, der schnelle Kuss, der Vampirkuss und der Wangenkuss. Es ist wirklich eine Kunst, die man trainieren muss - und dazu eignet sich München hervorragend. Vergangenes Jahr kam ein Freund aus Damaskus zu Besuch; er hat sich wie einst auch ich über die Einheimischen und ihr Geküsse gewundert. In Syrien gibt es seit einem Jahr ein Gesetz, dass es den Menschen unter Androhung von Geldstrafe verbietet, sich in der Öffentlichkeit zu küssen. Also zeigte ich meinem Gast einen Trick: "Schau mal, wie schön weiß-blau der Himmel ist." Wenn die anderen dann nach oben schauen, ist die Chance da - für ein heimliches Bussi.

© SZ vom 11.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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