Moosach:Steinchen kleben, Mauern einreißen

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An zwei leer stehenden Gebäuden an der Karlingerstraße entsteht ein "Moosaik" - wer mag, kann mitmachen. Mit dem bevorstehenden Abbruch der Häuser im Sanierungsgebiet verschwindet das Kunstwerk wieder

Von katja gerland, Moosach

Ein leer stehender Supermarkt, daneben ein verlassenes Wohnhaus, beide gleichermaßen heruntergekommen - die meisten würden die zwei Gebäude an der Karlingerstraße wohl keines Blickes mehr würdigen. Für Ingrid Müller aber gleichen sie einem Spielplatz für die Kunst.

Müller steht vor dem gelben Haus, auf dem bis vor Kurzem noch das Schild eines türkischen Supermarkts prangte, und hält ein zerbrochenes Stück Keramik in der Hand. "Die Geschichten der Häuser wieder aufleben zu lassen", sagt die Künstlerin, sei ihr Plan gewesen, als das Stadtteilmanagement sie vor einigen Monaten mit der Idee eines Kunstprojekts in dem Leerstand kontaktiert hat. Eine Möglichkeit zum Mitgestalten für alle Moosacher sollte es sein. Und zugleich die anstehende Entwicklung der Siedlung westlich der Dachauer Straße zwischen Baubergerstraße und dem Wintrichring begleiten: Im Zuge der Stadtsanierung Moosach will die städtische Wohnungsgesellschaft GWG München die Gebäude auf einen zeitgemäßen Standard bringen.

Einige Wohnbauten werden deshalb saniert. Weil für eine Reihe von Nachkriegshäusern entlang der Karlingerstraße laut der GWG keine Möglichkeit mehr zur Sanierung besteht, steht dort in den kommenden Jahren der Abriss an. Den Bauabschnitt 1, bestehend aus dem bereits leer stehenden Wohngebäude, dem Supermarkt sowie einem weiteren Haus an der Gubestraße, trifft es schon im Oktober. Dann folgen bis 2026 weitere Häuser, eingeteilt in vier Bauabschnitte. "An ihrer Stelle entstehen familien- und singlefreundliche Wohnungen", erklärt die Wohnungsgesellschaft auf knallgelben Plakaten, die an der Fassade des ehemaligen Supermarkts hängen.

Aus ausrangierten Fliesen entsteht ein buntes "Moosaik". (Foto: Friedrich Bungert)

Kreativ sollte es natürlich sein, erinnert sich Ingrid Müller an ihre Ideenfindung, aber dennoch über das typische Graffiti-Projekt hinausgehen. Das Ergebnis sieht man bereits an den Wänden des Supermarkts, von denen mitunter schon der Putz bröckelt. Bunte Keramik fügt sich dort zu großen und kleinen Mosaiken zusammen. Ein Hase aus Fliesenscherben hoppelt über die Wand, eine Sonnenblume, bestückt mit gelber Keramik und Spiegelscherben, wächst in überdimensionaler Größe am Supermarkt empor. Und so manch einer hat sich namentlich verewigt.

Seit Anfang Juli kann sich hier jedermann unter der Leitung von Ingrid Müller künstlerisch ausleben. So soll Schritt für Schritt das "Moosaik" - ein Mosaik im Herzen von Moosach - entstehen. Die verwendeten Materialien, erzählt Müller, erinnern an die Vergangenheit der Siedlung: Die Fliesen stammen fast ausschließlich aus den Bädern des bereits leer stehenden Gebäudes nebenan. Zudem sind die Besucher dazu aufgerufen, Fundstücke aus Moosach in ihren Wandgemälden zu verarbeiten. So haben schon Kronkorken oder Handschuhe ihren Weg in das "Moosaik" gefunden. "Es gibt überhaupt keine Vorgaben", sagt die Künstlerin. Jeder könne das Mosaik um "bunte Muster und wilde Motive" ergänzen. Und wer sich lieber beim Fliesenmalen ausprobieren möchte, für den stehen weiße Keramik, Farbe und ein Malkurs unter der Leitung von Müller bereit.

Mal nicht Graffiti: jeder der mag, kann am Mitmach-Mosaik teilnehmen. (Foto: Friedrich Bungert)

Einige Besucher kommen jedoch nicht nur mit dem Ziel, Fliesen zu kleben. Auch die anstehenden Veränderungen in der Siedlung seien immer wieder Thema am "Moosaik", sagt Müller. Zwar könnten die Anwohner, so steht es auf den Plakaten geschrieben, in eine alternative Wohnung der GWG umziehen und nach Ende der Arbeiten wieder in die Siedlung zurückkehren. Ob sie sich die Wohnungen in den Neubauten, die dann das Gebiet an der Karlingerstraße prägen, noch leisten können, darüber seien sich die Anwohner unsicher, weiß Müller. "Viele hier haben Angst vor einer Gentrifizierung."

Gerda Peter, Geschäftsführerin der GWG München, sieht jedoch keinen Grund zur Sorge. Schließlich, das berichtet sie auf Nachfrage der SZ, seien die entstehenden Neubauten Teil eines einkommensorientierten Förderprogramms. Die Miete werde also nicht grundsätzlich erhöht, sondern hänge immer von den Umständen der zukünftigen Bewohner ab. Förderberechtigte Anwohner könnten deshalb nach dem Abriss und Neubau wieder in ihre Siedlung zurückkehren. Je nach Einkommenssituation erhalten sie dann sogar einen Mietzuschuss.

Ehe entlang der Karlingerstraße im Zuge der anstehenden Stadtsanierung einige Häuser abgerissen werden, kann Ingrid Müller dort Mitmach-Kunst realisieren. (Foto: Friedrich Bungert)

Eine kollektive Rückkehr in die Siedlung im Sanierungsgebiet wird es Peters Einschätzung nach aber ohnehin nicht geben. Denn die Erfahrung aus vergangenen Projekten zeige, dass ehemalige Anwohner eher selten die Möglichkeit ergriffen, in ihre Siedlungen zurückzukehren. Ob künftig neue Mieter die Wohnungen an der Karlingerstraße beziehen werden, oder sich die Häuser wieder mit früheren Anwohnern füllen, ist also noch ungewiss.

Sicher ist hingegen, was mit den Kunstwerken am Supermarkt passiert: Noch vor dem Abriss im Oktober, erzählt Müller, werde sie einige Mosaike abtragen und das Gesamtkunstwerk auf Fotos dokumentieren. Der Großteil der Fliesenbilder muss aber gemeinsam mit dem Gebäude der Abrissbirne weichen.

Ob es denn nicht schade sei, dass das "Moosaik" mit Beginn der Bauarbeiten wieder verschwindet? "Damit müssen wir leben", sagt die Künstlerin, es gehe hier schließlich einfach darum, sich künstlerisch zu betätigen. Das führt sie noch bis Ende August fort. Bis dahin können Moosacherinnen und Moosacher gemeinsam kleben, malen und, ganz nach Müllers Idee, mit ihren Kunstwerken die Geschichte der Häuser wieder aufleben lassen.

Das "Moosaik" an der Karlingerstraße 72 ist noch bis Ende August an drei Tagen in der Woche zum Mitmachen geöffnet. Mittwochs von 14 bis 16.30 Uhr, donnerstags von 17 bis 19.30 Uhr und samstags zwischen 16 und 19 Uhr. Eine Anmeldung zu einem oder mehreren Terminen ist per Telefon an 0160-97 92 50 66 oder per E-Mail an ingrid0mueller@online.de erforderlich. Fliesenmalpakete zum eigenständigen Bemalen von Fliesen sind kostenlos im Stadtteilladen Moosach und im Nachbarschaftstreff an der Karlingerstraße 30a erhältlich.

© SZ vom 21.08.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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