Meine Woche:Geschichten aus dem Leben

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Marcia Rebay (Foto: privat)

Marcia Rebay lässt ältere Frauen und Männer in Giesing erzählen

Von Kilian Beck

Das Viertel bekommt für mich gerade eine zweite Schicht", sagt Marcia Rebay (). Für ihren Podcast "Viertelgeschichten" spricht die Ethnologin und Kulturwissenschaftlerin mit Menschen aus Giesing, die älter als 65 Jahre sind. Sie erfährt spannende Lebensgeschichten, Geschichten einer Generation, der Rebays Meinung nach zu selten zugehört wird. Und die 28-Jährige erfährt viel über das Viertel, in dem sie lebt - wie es einmal war, was es heute nicht mehr gibt.

Diesen Mittwoch wird sie einen alteingesessenen Giesinger treffen. Wovon er ihr erzählen wird, weiß sie nicht. "Wenn ich zu viel plane, dann habe ich das Gefühl, mir selbst Türen zuzuschlagen", sagt Rebay, sie möchte unvoreingenommen bleiben. "Ein bisschen aufgeregt bin ich schon", meint sie, einige Fragen werde er nicht beantworten, hat ihr Gast bereits angekündigt. Zu persönlich wohl. Die Frauen dieser Generation seien da ganz anders, hat Rebay bei ihren bisherigen Interviews mit vier Giesingerinnen festgestellt. "Ich hab' doch nix zu erzählen", sei meistens deren erste Reaktion gewesen. Rebay meint, das sei ihnen anerzogen worden: "Erst bestimmte die Familie ihr Leben, dann ein Mann, so nehmen sie gar nicht wahr, dass ihr Leben und ihre Geschichten einen eigenen Wert haben."

Aber dann kommen die Lebensgeschichten doch, von der ersten Liebe, von schweren Schicksalsschlägen. Gerade schneidet sie die nächste Episode. Dafür hat sie mit einer 1939 geborenen Frau gesprochen. "Sie wollte immer Friseurin werden", erzählt Rebay. Daraus wurde nichts: Der im Krieg traumatisierte Vater kam nach Hause, fing an zu trinken und tyrannisierte die Familie. Direkt nach der Volksschule zwang er sie, arbeiten zu gehen. Sie und ihr Bruder durften keine Ausbildung beginnen und mussten die Schule abbrechen. Kein schönes Schicksal, findet Rebay, aber "sie hat so viel Weises gesagt". Zum Beispiel dieses: "Corona macht ihr keine Angst, Rassismus macht ihr Angst, hat sie mir gesagt", erzählt die Ethnologin, die vor Jahren einen Freiwilligen-Dienst in einem Alten- und Servicezentrum in Giesing absolviert hat.

Auch das Vorurteil von den angeblich rückständigen Alten lässt Rebay nicht gelten, die sich mit ihren Gästen auch über das Viertel im Wandel unterhält. Bisher befürworteten alle die Veränderung in Giesing. "Da war ich selbst etwas überrascht", sagt sie. "Wir müssen dieser Generation mehr zuhören und uns überlegen, wie wir behandelt werden möchten, wenn wir in ein paar Jahrzehnten mal an ihrer Stelle sind." Wer zuhören möchte, findet den Podcast auf ihrer Website unter www.viertelgeschichtengiesing.de.

© SZ vom 27.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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