Maxvorstadt:Völlige Dunkelheit

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Da rein: Für den eigentlich Sehenden ist selbst das Becherfüllen ein Problem (Foto: Stephan Rumpf)

Die "Woche des Sehens" gibt Interessierten die Möglichkeit, blinden Mitmenschen in ihrer Welt zu begegnen

Von Tim Sauer, Maxvorstadt

Vergeblich wartet man auf das erleichternde Gefühl, das sich einstellt, wenn man im Halbdunkel beginnt, Umrisse zu erkennen. Alles bleibt tiefschwarz. Orientierungs- und Hilflosigkeit sind die dominierenden Gefühle im Dunkelcafé des Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenverbundes.

Das ist durchaus gewollt - jede noch so kleine Lichtquelle ist aus diesem Raum verbannt, die Besucher sollen Blinden in ihrer Welt begegnen. Und dazu gehört es, sich "in uns hineinversetzen zu können", erklärt der blinde Steffen Erzgraber, einer der Landesgeschäftsführer des Verbundes. Zwar gesteht er zu, dass ein einziger Besuch in der Dunkelheit dafür nicht ausreichend ist. Er glaubt aber dennoch, seinen Gästen mit der Aktion einen Eindruck verschaffen zu können, was ein Blinder zu bewältigen hat: "Für mich sind solche alltäglichen Dinge natürlich nicht mehr anstrengend." Als Sehender hat man im Finstern allerdings mit den einfachsten Handgriffen Probleme .

So kann es schon als Erfolg verbucht werden, unbekleckert aus dem Café zurück zu kommen. Denn bleiben kleinere Unfälle im Dunkeln noch verborgen, macht sich ein Kaffeefleck im Schoß bei Tageslicht nicht mehr so gut. Ohne die beiden blinden Servierkräfte wäre der Gast ohnehin aufgeschmissen. Mit der Hand auf der Schulter des Vorgängers tastet man sich durch den Raum, plumpst auf den Stuhl und erfühlt das Stück Zitronenkuchen, das zu Testzwecken vorbereitet ist.

Die Leistung der Blinden nötigt schnell Respekt ab. Bewunderung will Erzgraber aber nicht. "Und gegen Mitleid würde ich mich wehren." Es geht ihm vielmehr darum, dass Blinde noch weiter "in der Gesellschaft ankommen". Das funktioniere nur, wenn es ein gewisses Grundverständnis gebe. Dazu versucht er mit seinem Verbund und mit Hilfe solcher Aktionen beizutragen. Es habe sich schon vieles deutlich verbessert, einiges laufe aber immer noch schlecht. Ein Unding sei zum Beispiel, dass es an der S-Bahn-Station am Hauptbahnhof noch immer keinen geriffelten Sicherheitsstreifen vor dem Gleis gebe. "Inklusion gibt es nicht zum Nulltarif", erklärt Erzgraber. Dafür leiste er jetzt Aufklärungsarbeit und versuche vor allem, mehr Anerkennung für Blinde zu erreichen.

Passend lautet das Motto der diesjährigen "Woche des Sehens", in deren Rahmen die Veranstaltung stattfindet, "Auf Augenhöhe". Im gesamten Bundesgebiet lädt der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband seit dem 8. Oktober zu Aktionen ein, die unterschiedliche Aspekte des Blindseins beleuchten sollen. An diesem Donnerstag, dem "Tag des weißen Stocks", endet sie.

Die Erfahrung der Dunkelheit kann aber auch nach der "Woche des Sehens" geteilt werden: Interessierte finden im Internet unter www.bbsb.org Münchner Lokale, die auch in Zukunft "Essen im Dunkeln" anbieten.

Die blinden Serviererinnen Melanie Egerer und Martina Hellriegel-Lane, die beide schon häufiger in der stockdunklen Finsternis bedient haben, berichten übrigens von ganz unterschiedlichen Reaktionen der Besucher: Manche der Gäste sind tiefenentspannt, andere wiederum empfinden die ungewohnte, völlige Dunkelheit als beklemmend und geraten mitunter sogar in Panik.

© SZ vom 15.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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