Maxvorstadt:Spießige Boheme

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Die "Maxvorstädter Vorlesungen" an der Ludwig-Maximilians-Universität setzen sich kritisch mit den Künstlerkreisen während der Belle Epoque in der Maxvorstadt auseinander - der Mythos bekommt dadurch einige Kratzer

Von Stefan Mühleisen, Maxvorstadt

Angeklagt sind: das Spießertum, die Prüderie, die Zensur. Das Urteil lautet immer: Enthauptung. Es war der 13. April 1901, als elf Männer, vermummt mit Ledermasken, das erste Mal die Bühne im Gasthof "Zum goldenen Hirschen" an der Türkenstraße 28 betreten. München zählt damals rund eine halbe Million Einwohner, die Mass auf der Wiesn kostet 35 Pfennige - und mit den elf Männern hat die Stadt nun eine Aufsehen erregende Kabarett-Truppe. Sie nennen sich "Die elf Scharfrichter" und treffen den Nerv der aufblühenden Münchner Boheme-Szene. "Doch man muss den Mythos der Boheme kritisch sehen", warnt der Literaturwissenschaftler Waldemar Fromm vom Institut für Deutsche Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU).

Moment mal, kritisch sehen? Dieses inspirierende Avantgarde-Personal der Belle Epoque, das jenen Freigeist zelebrierte, für den Schwabing und die Maxvorstadt so berühmt sind? Tja, durchaus. Und bei einer Reihe an der LMU mit dem Titel "Maxvorstädter Vorlesungen" kann man die Gründe dafür erfahren. Sie beginnt am Mittwoch, 4. November, im Hörsaal B006 im Uni-Hauptgebäude; die Vorträge finden im laufenden Wintersemester in unregelmäßiger Folge immer mittwochs jeweils von 18 bis 20 Uhr statt. Es ist die zweite Auflage einer besonderen Projektes: Vor zwei Jahren realisierten Fromm und Kollegen im Schulterschluss mit dem Bezirksausschuss Maxvorstadt schon einmal eine Vortragsreihe, die sich mit der Geschichte des Viertels auseinandersetzte. Die Idee: Lokalpolitiker und Forscher beleuchten gemeinsam die Geschichte ihres Stadtbezirks.

Vermummt, bekannt: Am 13. April 1901 betraten "Die elf Scharfrichter" das erste Mal die Bühne im Gasthof "Zum goldenen Hirschen". (Foto: Stadtbibliothek)

Es war ein großer Erfolg, was sich auch daran zeigte, dass der Sammelband zur Reihe schnell vergriffen war. Auch zum jetzt anlaufenden Vortragsreigen soll ein Buch erscheinen. "Das Interesse der Bürger ist groß. Selbst Studenten zeigen große Begeisterung für Forschungsthemen aus der Maxvorstadt", sagt Fromm.

Zum Beispiel die "Elf Scharfrichter": Judith Kemp vom Arnold-Schönberg-Center in Wien hat sich eingehend mit der Kabarett-Truppe beschäftigt. Sie versetzt dem Glanz der Boheme einige Kratzer. Denn der Kreis um Otto Falckenberg sei ein "regelrechtes Spiegelbild des wilhelminischen Deutschlands mit all seinen Widersprüchen und Brechungen", wie sie schreibt - und in ihrem Vortrag am 2. Dezember ausführen wird. Auch Waldemar Fromm dekonstruiert das idealisierte Bild von "Wahnmoching" anhand von biografischen Texten in seinem Referat am 13. Januar. Viele Boheme-Akteure waren antibürgerlich und antidemokratisch eingestellt - und sie blieben es, als später in der Weimarer Republik engagierter Bürgersinn dringend nötig gewesen wäre.

Indes war die Kreativ-Szene Anfang des 20. Jahrhunderts keine reine Männerdomäne, im Gegenteil. Die Literaturwissenschaftlerin Ingvild Richardsen zeigt in ihrem Vortrag am 25. November, dass es damals eine Reihe von engagierten und mutigen Autorinnen gab: Carry Brachvogel etwa, die 1913 den Verein Münchener Schriftstellerinnen gründete, dem bald Richarda Huch oder Annette Kolb beitraten. Von den Mitgliedern wurde gefordert, dass sie "Arbeiten nicht zu Schleuderpreisen oder umsonst abgeben, damit mit dem bei vielen Redaktionen herrschenden Vorurteil gebrochen werden kann, dass Frauenarbeit billiger entlohnt werden dürfe als Männerarbeit", wie Richardsen schreibt.

Lasziv und voller Lebenslust: die Schriftstellerin Carry Brachvogel, wie sie der Grafiker Franz von Bayros sah. (Foto: Tim Friedrich, Privatarchiv Ingvild Richardsen)

Literaturwissenschaftlerin Hannelore Putz vom Institut für Bayerische Geschichte geht am 16. Dezember von der Jahrhundertwende ein paar Jahrzehnte zurück und legt dar, wie König Ludwig I. die Topografie der Maxvorstadt mit seinen Prachtbauten, Denkmälern und Universität geformt hat. Nikola Becker, ebenfalls vom Institut für Bayerische Geschichte, beschäftigt sich am 27. Januar mit den intellektuellen Zirkeln, die sich von der Prinzregentenzeit an in Ludwigs "Isarathen" tummelten. Sie zeigt: Die Schöngeister beschreiben sich selbst als hochgebildet, liberal, kultiviert. Doch auch sie sind nach dem Ersten Weltkrieg empfänglich für den Ungeist nationalsozialistischen Gedankenguts. "Artur Kutscher und sein Kreis kann exemplarisch herangezogen werden für das Changieren zwischen künstlerischer Moderne und einer politisch zutiefst problematischen politischen Entwicklung", so Becker.

Beim Auftakt der Vorlesungsreihe am Mittwoch, 4. November, wird es um eine problematische Kontinuität in der Maxvorstadt gehen: Es gibt im Stadtbezirk immer weniger Grünflächen. Klaus Bäumler - als ehemaliger Bezirksausschussvorsitzender und Autor vieler historischer Aufsätze zählt er zu den Hauptinitiatoren der Vorlesungsreihe - hat aus Plänen, Archivalien, Erinnerungsbüchern und Biografien die Bedeutung des privaten und öffentlichen Grüns herausgearbeitet. "Die Geschichte des Münchner Stadtgrüns ist noch nicht geschrieben", bedauert er.

© SZ vom 03.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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