Martinsried:Mit eigenen Augen

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Ali Ertürk ist Neurowissenschaftler und zugleich international renommierter Fotograf. Er will nicht das sehen, was Heerscharen von Menschen vor ihm schon gesehen haben und schafft so überwältigende Landschaftsaufnahmen und Stadtszenerien

Von Annette Jäger, Martinsried

Ali Ertürk hat viel gesehen. Canyons in Arizona, Bergmassive in Italien, Naturparks in Kalifornien. Wo auch immer er war, nie hat er sich auf ausgetretenen Pfaden bewegt. Er will nicht das sehen, was Heerscharen von Menschen vor ihm schon gesehen haben. Er will neue Perspektiven, er will sein eigenes Bild von der Welt. Dafür steht er morgens um vier Uhr auf, um erste Sonnenstrahlen zu erwischen. Er harrt nächtelang im Schlafsack im Freien aus, um die Milchstraße zu sehen. Wenn irgendwo auf einem Schild "Nicht betreten" steht, ist das eine Einladung für ihn, über den Zaun zu klettern. Er macht das, um das eine große "Drama", wie er es nennt, einzufangen. Den einen Moment, den noch niemand auf diese Weise betrachtet hat, in dem er dann - klick - auf den Auslöser drückt.

Ali Ertürk schafft so überwältigende Landschaftsaufnahmen und Stadtszenerien. Mit Weitwinkel fotografiert, bei Sonnenauf- oder Sonnenuntergang eingefangen, oft auch in der Nacht, ziehen sie den Betrachter in die Tiefe. Als könnte man eintauchen in die Wolkendecke über der Golden Gate Bridge oder direkt Kurs nehmen auf die Milchstraße. "Day and Night around the Globe" heißt seine Fotoausstellung, die noch bis 21. November im Foyer des Max-Planck-Instituts für Biochemie in Martinsried zu sehen ist und die 18 großformatige Arbeiten aus den letzten drei Jahren zeigt. Es ist die dritte Ausstellung des inzwischen international gewürdigten Fotografen. Ertürks Fangemeinde im Internet hat seine Bilder bereits mehr als eine Million Mal geklickt, in der internationalen Presse und in Fachzeitschriften wie Nature oder National Geographic finden sie Beachtung.

Der Ausstellungsort im Max-Planck-Institut (MPI) ist kein Zufall, denn Ali Ertürk ist Neurowissenschaftler. Nach seinem Studium in Ankara promovierte er am MPI für Neurobiologie in München. Jetzt leitet der 34-Jährige eine Forschergruppe, die die Zusammenhänge von Gehirnverletzungen und Demenz untersucht. Teil von Ertürks Arbeit ist es, die neuronalen Strukturen des Gehirns sichtbar zu machen. Und hier schließt sich der Kreis zur Fotografie: Die feinen Verästelungen der Neuronen sehen doch aus wie die Zweige des Baums in dem japanischen Garten auf dem Foto, zeigt Ertürk auf dem Bild im Foyer. Und die bunten Herbstblätter an den Spitzen der Zweige - erinnern die nicht an Synapsen? Über die Wissenschaft hat er zur Kunst gefunden. Die Kunst, das Lauern auf den einen Moment, gibt ihm Freiheit im Denken, was wiederum in seine Arbeit als Wissenschaftler einfließt. In beiden Disziplinen ist er auf der Suche nach dem Einzigartigen.

Viele seiner Fotografien sind aus mehreren Einzelaufnahmen zusammengesetzt. So entsteht einerseits der Eindruck unendlicher Weite - und doch bleiben kleinste Details sichtbar wie Menschen, die wie Strichfiguren auf einer Bergkuppe stehen. Ertürk druckt auf Metall, so werden die Bilder noch kontrastreicher und lebendiger. Farben und Licht eifern in ihrer Intensität um die Wette. Das Bild vom Antelope Canyon in Arizona könnte auch auf dem Mars aufgenommen sein, die Milchstraßenimpressionen muten wie ferne Galaxien an. Dabei ist alles ganz real, "es ist da", sagt Ertürk. Man muss es nur sehen. Wenn er die Bilder am Computer nachbearbeitet, dann um das, was das Auge in diesen magischen Momenten wahrgenommen hat und keine Kamera einfangen kann, wieder hervorzuzaubern.

Ertürk ist im Aufbruch. Eine Konferenz in Chicago steht an, er fährt ein paar Tage früher. Er will noch in den Joshua Tree Nationalpark in Kalifornien, eine bizarre Wüstenlandschaft. Das Wetter soll klar sein, sagt ihm die App - es ist Neumond, ideal, um die Milchstraße zu sehen. Zeit also, um wieder mal nach den Sternen zu greifen.

"Day and Night around the Globe", Max-Planck- Institut für Biochemie, Martinsried, Am Klopferspitz 18. Die Ausstellung ist noch bis zum 21. November durchgehend 24 Stunden geöffnet.

© SZ vom 06.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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