Tristan hat die letzte Gelegenheit genutzt. Das ganze Schuljahr über hat es nicht geklappt, immer waren andere schneller als er, doch nun kann der Fünftklässler des Theresien-Gymnasiums (ThG) doch noch ein Porträt mit in die Ferien nehmen. Sein Porträt. Andreas Wiehl, der Kunstlehrer, hat beim Sommerfest nämlich noch einmal das getan, was die Pausen an den Dienstagen in den vergangenen sechs Jahren zu besonderen Pausen gemacht hat. Er hat Schüler mit dem Kohlestift gezeichnet, und zwar in einem "umgekehrten Verkauf", wie er das nennt. Bitte was? Hat da etwa einer die Gesetze des Handels einfach umgedreht?
"Das ist genauso ein Kauf wie jeder andere", sagt Wiehl. Nur, dass hier eben der Verkäufer den Kunden bezahlt. Und nicht andersherum. Der Lehrer, 63 Jahre alt, schreibt das Datum auf einen Fünf-Euro-Schein, signiert diesen und stanzt die Konturen eines kleinen Männleins hinein. Immer, bei jedem einzelnen Bild. Was sich der Lehrer da vor vielen Jahren ausgedacht hat, darf guten Gewissens als kleiner, durchaus kreativer Seitenhieb gegen den Konsumwahn interpretiert werden. Vor allem sei durch die Absage an den klassischen Deal eine viel freiere Begegnung möglich. "Man zieht nicht mehr, man handelt nicht mehr", sagt Wiehl. "Man hat alles erledigt und spricht miteinander."
Tristan hält das Bild einige Zentimeter von seinem Körper weg, betrachtet es genauer. Da ist er: seine Haare, seine Augen, seine Nase und das verschmitzte Lächeln, alles hat der Lehrer eingefangen. "Das hebe ich auf", sagt der Junge, elf Jahre alt. Das Bild? Eh klar. Aber auch das Geld wolle er nicht ausgeben. Als Erinnerung. Denn Wiehl verlässt das Theresien-Gymnasium, an dem er 18 Jahre lang einen Tag in der Woche unterrichtet hat - und wechselt zum neuen Schuljahr an das Gymnasium Ismaning im nördlichen Landkreis München. Das ThG hat nämlich nur einen Kunstsaal. Und statt den Unterricht dort auf vier Lehrer zu verteilen, will man künftig zwei Pädagogen in Vollzeit beschäftigen.
Wiehl hat schon bei Obacht, der Haidhauser Kulturbiennale, Leute gezeichnet, und auch bei den Sommerfesten des ThGs hatte sich das Porträtieren im "umgekehrten Verkauf" als beliebte Aktion etabliert. Auch in diesem Jahr kann er den Stift kaum einmal eine Sekunde aus der Hand legen ob des Andrangs. Gerade sitzt ihm ein Mädchen, elf Jahre alt, mit langen rotblonden Haaren gegenüber. Welche Farbe der Karton denn haben solle?, fragt Wiehl. "Gelb", sagt das Kind. Dann legt er los. Sie habe ja mehrere Lidfalten, sagt Wiehl, das sehe man nur sehr selten. Vielleicht liegt es an der ruhigen Stimme des Lehrers, vielleicht an den gleichmäßigen Bewegungen, mit denen er die Kohle über den Papierbogen führt. Aber mit einem Mal ist da eine Ruhe, die man einer Fünftklässlerin so nicht zugetraut hätte. Kein nervöses Hin- und Herrutschen auf der Bank, kein Zappeln. In solchen Momenten lernt auch Wiehl die Kinder und Jugendlichen besser kennen, als es während des Unterrichts mit der ganzen Klasse möglich ist. "Das ist sehr wertvolle Zeit."
In den vergangenen sechs Jahren sind an der Schule 240 Porträts entstanden, die zum Preis von 1200 Euro veräußert wurden. Den größten Teil dieses Betrages hat der Förderverein der Schule übernommen. "Die Schüler sind aber nicht wegen der fünf Euro gekommen", sagt Schulleiterin Gabriele Jahreiß-Walther. Sondern weil sie es toll fänden, porträtiert zu werden. Überhaupt sei Wiehl mit einem sehr kreativen Unterricht aufgefallen, zum Beispiel, wenn er den Schülern aus Antoine de Saint-Exupérys "Der kleine Prinz" vorgelesen und diese die Szenen dann habe nachmalen lassen. Malen und zeichnen, das weiß Andreas Wiehl wiederum nur zu gut, ist nicht zuletzt eine Frage der Übung. Der gebürtige Marburger hat an der Kunstakademie in München studiert, doch so richtig porträtieren habe er vor mehr als 20 Jahren an der Seite eines Asylbewerbers aus der Ukraine gelernt, als sie zusammen am Marienplatz Leute gezeichnet hätten. "Noch und noch und noch."
Bleibt die Frage, wie er denn überhaupt auf die Idee mit dem "umgekehrten Verkauf" gekommen ist? Nun, sagt Wiehl, er sei früher ein leidenschaftlicher Flohmarktbesucher gewesen. Doch einmal, als er anschließend mit voll bepackten Taschen mit einer Freundin zusammensaß, da fühlte er sich plötzlich gar nicht mehr wohl. Also verschenkte er die Dinge, die er gerade erst erstanden hatte, und gab den Leuten obendrein noch Geld. Ein befreiendes Gefühl. Und weil dieser "umgekehrte Verkauf" in der Kunst besser verständlich ist, als wenn er Töpfe, Schuhe oder Fahrräder abgeben würde, entwickelte Wiehl die Aktion mit den Porträts.
Meistens beginnt er mit den Konturen des Gesichts, manchmal aber auch mit dem Haaransatz, oder bei Nasenflügeln, die sich selbst bei einem Lächeln nicht weiten. "Ich beginne immer da, wo sich das Gefühl am stärksten aufhält", sagt Wiehl. Ach so. Und es sind im Übrigen nicht nur Kinder und Jugendliche, die sich unbedingt malen lassen möchten. Auch Hans Hauser, der Hausmeister des ThG, drückt ganz glücklich eine Zeichnung von sich an die Brust. "Eine kleine Ehre." Ob er sie aufhängen wird, weiß er noch nicht. Sein Vater war Kunstmaler, dessen Bilder beanspruchten ja ihren Platz an den Wänden.