SZ-Serie: München erlesen:Nach dem Stillstand

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Der Stachus 1947: Koeppen beschrieb Münchens Nachkriegserwachen. (Foto: SZ Photo)

Wolfgang Koeppens großes Zeitpanorama "Tauben im Gras"

Von Evelyn Vogel, München

Was ist das für eine seltsame Zeit, in der die Menschen ziellos wie Tauben im Gras durch die Stadt irren? Wohin sie sich auch wenden, nichts ist, wie es war. Menschenleere Trambahnen bimmeln am Stachus vorbei, der Marienplatz liegt im Dornröschenschlaf. Die Stiege in den Rathauskeller ist versperrt, beim Haxnbauer stehen die Drehspieße ebenso still wie die Bänder beim Running Sushi. Die Tore des ewig geselligen Oans-zwoa-g'suffa-Hofbräuhauses sind verrammelt und selbst der sonst omnipräsente Herrscher über die Kochtöpfe am Platzl ist verstummt.

"Philipp (...) zögerte vor dem Haupteingang des Bräuhauses, (...) einem geschlossenen Schlund, aus dem es nach Erbrochenem dunstete." Philipp ist so etwas wie der Hauptprotagonist in dem Roman "Tauben im Gras" von Wolfgang Koeppen, der an einem Tag im München der Nachkriegszeit spielt. "Man lebte im Spannungsfeld, (...) man lebte an der Nahtstelle, vielleicht an der Bruchstelle, die Zeit war kostbar (...)." Es sind die Jahre kurz nach der Währungsreform 1948. Jahre des Überlebenwollens, Jahre der Suche, Jahre der Neuorientierung. Das alte Deutschland, das als "ewig" verherrlichte "Dritte Reich", ist nach wenigen Jahren untergegangen. Mit dem neuen Deutschland, der noch jungen Bundesrepublik, fremdelt man. In diese Zeit hinein schrieb Koeppen seinen Roman "Tauben im Gras", der 1951 als erster Teil einer Nachkriegstrilogie erschien und den in Greifswald geborenen und bis zu seinem Tod 1996 in München lebenden Schriftsteller berühmt machen sollte.

München, die einstige Hauptstadt der Bewegung, schwingt sich aus den Trümmern auf, um zu neuem Leben zu erwachen. Und Koeppen verleiht diesem Erwachen wortgewandt und stilistisch einfallsreich Leben. Nicht von ungefähr wurde "Tauben im Gras" mit "Manhattan Transfer" von John Dos Passos verglichen. Koeppen versammelt ein recht unübersichtliches Figurenarsenal, er erschafft ein münchnerisches Panorama der Nachkriegszeit, das - nur so nebenbei - Michael Sommer mit seinem Playmobilensemble schon vor Jahren auf Youtube in höchst amüsante 17 Minuten gepresst hat. Koeppen lässt verschiedene Handlungsstränge nebeneinander herlaufen, die er erst spät miteinander verwebt. Da sind die Ausgebombten und Kriegsversehrten, die sich in den Gassen der Altstadt durchbetteln. Da sind die Frauen, die im Schatten des Bahnhofs ihren Körper gegen Geld verkaufen. Und da sind die Verarmten, die im Pfandhaus irgendwo beim Stachus ihr letztes Hab und Gut gegen etwas Essbares tauschen, um ihre Bäuche zu füllen.

Wolfgang Koeppen, geboren 1906 in Greifswald, gestorben 1996 in München, zählt zu den großen deutschen Schriftstellern der Gegenwart mit Romanen wie "Tauben im Gras". (Foto: Ursula Düren/dpa)

"Das Fräulein wollte leben. Es wollte sein eigenes Leben. Es wollte nicht der Eltern Leben wiederholen. Das Leben der Eltern war nicht nachahmenswert. Die Eltern waren gescheitert. Sie waren arm. Sie waren unheiter, unglücklich, vergrämt. Sie saßen vergrämt in einer grämlichen Stube bei grämlich munterer Musik. Das Fräulein wollte ein anders Leben, eine andere Freude, wenn es sein sollte, einen anderen Schmerz."

Schwarzmarktgewinnler und neue Reiche wollen ihren Anteil an der neuen Gesellschaft, in der amerikanische Soldaten, die Namen wie "Washington" und "Odysseus" tragen, ins alte "Bräuhaus" oder die neuen "Negerclubs" Münchens gehen. Anteil an einer Zukunft, in der sich die wenigen internationalen Besucher wie die junge Lehrerin Kay aus Massachusetts im Amerikahaus wie Fremdkörper ausnehmen. Und dazwischen: all die Menschen, die - unversehrt an Leib und Leben zwar - all ihren Mut und ihre Zuversicht verloren haben. Auch der Schriftsteller Philipp gehört zu diesen Verlorenen. Er ist unglücklich verheiratet, stets ein Beobachter am Rande, willens, aber des Schreibens unfähig. Ein Alter Ego Koeppens, der sich schon in jener Zeit auf seine spätere Rolle als der große Schweiger im Literaturbetrieb vorbereitete. Eine Rolle, für die er - nachdem er vom Kritikerpapst Marcel Reich-Ranicki zur Crème de la Crème deutscher Nachkriegsliteratur erhoben und vom Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld zum Hausautor erkoren worden war - ebenso berühmt werden sollte wie für seine "Trilogie des Scheiterns". Zu ihr gehören neben den "Tauben im Gras" auch "Das Treibhaus", eine Beschreibung des reaktionären Bonner Nachkriegsmuffs, und "Der Tod in Rom", wo die alten Nazis und ihre Seilschaften weiter ihr Unwesen treiben.

Alle drei Romane erschienen innerhalb weniger Jahre und stachen wegen ihrer außergewöhnlichen stilistischen Form aus dem jungen bundesrepublikanischen Literaturbetrieb heraus. Besonders wegen der gewagten Montagetechnik in den "Tauben im Gras" - mit krassen Schnitten zwischen den Erzähl- und Handlungssträngen und assoziativen Gegenschnitten von nachrichtlichen und literarischen Splittern sowie Werbeslogans - erlangte Koeppen schnell Beachtung bei Kritikern und zu Recht Erfolg bei Lesern.

"Er kam nicht nach Alabama. Er entwischte nicht. Die Zeit der Gesetzlosigkeit war vorbei, die Zeit, die meldete Gruppenführer als Rabbiner in Palästina, Barbier Direktor der Frauenklinik." Die halbe Welt und ihre Konflikte lässt Koeppen in wenigen Sätzen aufeinanderprallen. Oder er führt die Vorurteile des alten Europa und das Lebensgefühl der Neuen Welt geschmeidig und übergangslos in einem Absatz zusammen: "In der Villa der Lebensmittelhändlerin wohnten die Amis (...) und leerten ihre Konservenbüchsen, die Fließbandnahrung Chicago packt tausend Ochsen pro Minute." Einfach grandios. Doch Wolfgang Koeppen kam wie Philipp "mit der Zeit nicht zurecht". Weshalb das Verstummen des Autors - bis auf wenige Essays und andere kleine Formen - um so bitterer war für die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts. Was er wohl aus dem erzwungenen Stillstand in Corona-Zeiten gemacht hätte?

© SZ vom 23.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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