Literatur und Politik:Demonstration der Worte

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Deniz Yücel und Cem Özdemir lesen im Literaturhaus aus dem Buch "Morgengrauen" des türkischen Oppositionspolitikers Selahattin Demirtaş. Der frühere Vorsitzende der Partei HDP gilt als offen und modern und damit als Gegenentwurf zu Präsident Erdoğan. Demirtaş wurde 2016 eingesperrt

Von Gerhard Fischer

Deniz Yücel ist Journalist, er ist ein Beobachter, ein Fragensteller, ein Schreiber. Aber er redet auch gerne. Eigentlich soll er jetzt aus dem Buch "Morgengrauen" lesen, das der türkische Oppositionspolitiker Selahattin Demirtaş in seiner Haft geschrieben hat. Aber Yücel erzählt und erzählt - von seinem Jahr im Gefängnis und von der Gefängnisbrieflesekommission, die eine Zeit lang nur die Schreiben seiner Schwiegermutter an ihn weiterleitete, aber nicht jene seiner Frau. Irgendwann geht die Moderatorin Doris Akrap dazwischen. "Du zerstörst unser Konzept", sagt sie zu Yücel und wendet sich dann ans Publikum: "Ich kenne ihn sehr lange, das macht er immer so." Sie sagt es nicht vorwurfsvoll. Eher liebevoll.

Auf dem Podium im ausverkauften Saal des Literaturhauses sitzen: Doris Akrap, taz-Journalistin, Mit-Initiatorin der Aktion "FreeDeniz" und seit ihrer Kindheit mit Yücel befreundet; Deniz Yücel, Korrespondent der Welt, Erdoğan-Kritiker, entlassener politischer Gefangener. Und Cem Özdemir. Den Grünen-Politiker kennt man eh.

Aber im Mittelpunkt des Abends steht einer, der nicht hier ist. Der nicht hier sein kann: Selahattin Demirtaş. Der frühere Vorsitzende der Partei HDP trat zweimal gegen Präsident Recep Tayyip Erdoğan an; Demirtaş gilt als offen und modern. "In der Türkei gibt es zwei Politikertypen", sagt Yücel, "den Macho und den Bürokraten, der im Apparat groß geworden ist - Demirtaş ist keiner von beiden." Er sei empathisch, frauenfreundlich und im angenehmen Sinne volkstümlich. Er ist offenbar alles, was Erdoğan nicht ist. Und deshalb ist er für den Präsidenten sehr gefährlich; Demirtaş wurde 2016 eingesperrt. Yücel wird später am Abend den traurigen Satz sagen: "Unter diesem Regime wird Demirtaş wohl als Letzter aus der Haft entlassen werden."

Selahattin Demirtaş hat in der Haft das Buch "Morgengrauen" geschrieben, es enthält zwölf Erzählungen - über Busfahrer, Putzfrauen oder Pizzaboten. "Das Buch geht an die arbeitende Bevölkerung", sagt Yücel, "aber die einfachen Leute werden nicht romantisch überhöht - das Buch ist nüchtern, ironisch, einfühlsam." Und es kritisiert Doppelmoral, grausame Traditionen wie den Ehrenmord und - auch wenn Erdoğan nicht erwähnt wird - staatliche Willkür. Es ist ein Bestseller in der Türkei; 200 000 Menschen haben es gekauft.

Deniz Yücel (links) und Cem Özdemir lesen aus dem Buch von Selahattin Demirtaş. (Foto: Catherina Hess)

Doris Akrap sagt, dies sei keine gewöhnliche Lesung; es sei eine Demonstration für Demirtaş. So, wie sich andere auch solidarisch zeigen: Akrap sagt, die Schauspielerin Sarah Jessica Parker sei mit großer Sonnenbrille und Demirtaş-Buch durch New York spaziert.

Auch Yücel und Özdemir kennen sich offenbar gut. Sie wirken jedenfalls vertraut. Als Özdemir sagt, Demirtaş sei mal "türkischer Obama" genannt worden, lächelt Yücel und meint: "Das sagt einer, der als schwäbischer Obama bezeichnet wurde - als Obamale." Özdemir hat sich mit Erdoğan angelegt, wegen Yücel, aber auch wegen Demirtaş. "So lange Selahattin Demirtaş und andere in Haft sitzen, kann es im deutsch-türkischen Verhältnis keine Normalität geben", sagt er. Die Leute klatschen. Erdoğan sagte über den in Bad Urach geborenen Özdemir, dieser sei ein "angeblicher Türke", und er wolle ihn nicht mehr in seinem Land sehen.

Deniz Yücel war von Februar 2017 bis Februar 2018 im Gefängnis, wegen angeblicher Terrorpropaganda. Damals sah man Yücel oft im Fernsehen, mit verwuschelten Haaren und grau-schwarzem Bart. Verwuscheltes Haar hat er noch, aber der Bart ist ab. Der 45-Jährige sieht jetzt sehr jung aus.

Yücel und Özdemir, so sieht es das Konzept des Abends vor, sollen je ein Kapitel aus dem Buch lesen. Yücel hat sich Demirtaş' Schreiben an die Gefängnisbrieflesekommission ausgesucht. Diese Leute lesen die Briefe von Häftlingen und von Menschen, die den Häftlingen schreiben. Gibt es keine Einwände, kommt ein Stempel drauf. "Ich frage mich, warum Sie sich diesen Beruf ausgesucht haben", schreibt Demirtaş an die Kommission. Aber es wird keine Anklage. Es wird ein überwiegend heiterer, manchmal trauriger Brief.

Bis zu diesem Moment ist die Stimmung an dem Abend genau so: mal heiter, mal traurig, mal ernst. Aber dann wird sie bitter ernst. Özdemir liest sein Kapitel vor, und es beginnt sehr schön. Die 22-jährige Seher (das ist der türkische Name für Morgengrauen) ist verliebt, zum ersten Mal, sie träumt von der Hochzeit, sie richtet in Gedanken die gemeinsame Wohnung ein.

Aber der Mann, den sie heiraten will, vergewaltigt sie.

Eigentlich müsste man nun alles tun, um Seher von diesem Trauma zu befreien. Aber in gewissen Teilen der Türkei gilt sie nicht als Opfer, sondern als Täterin - sie ist mit einem Mann mitgegangen und hat die Ehre der Familie beschmutzt. Sehers Vater drückt einem seiner Söhne, Engin, eine Waffe in die Hand. Engin erschießt seine Schwester. Es ist ein Ehrenmord.

Selahattin Demirtaş, der frühere Vorsitzende der Partei HDP, ist seit 2016 in der Türkei inhafiert. (Foto: AFP)

Die Leute im Saal sind schwer erschüttert. Es ist still, Sekunden lang. Yücel löst die Situation auf, indem er vorschlägt, ein Bild aus dem Saal zu machen, mit winkenden Menschen, und es Demirtaş zu schicken. Dann sagt Özdemir, es sei mutig von Demirtaş, den Ehrenmord zu thematisieren - nur dies sei der Weg, um diese furchtbare Tradition zu beenden.

Schließlich muss Özdemir zum Flieger, und Yücel redet über Erdoğan: Man müsse weiter Druck machen, denn das Ausland gewöhne sich an die Lage in der Türkei. Auch die Türken gewöhnten sich daran. "Für Journalisten gehört es mittlerweile zum Berufsrisiko, ins Gefängnis zu kommen - wie es für Feuerwehrleute ein Risiko ist, eine Brandvergiftung zu kriegen."

Die Verhandlung gegen ihn, Yücel, ist weiter offen. Er muss im Mai zur Anklage aussagen. In Deutschland, gottlob.

© SZ vom 02.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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