SZ-Serie: München erlesen:Macht des Misstrauens

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Der britische Bestsellerautor Robert Harris beschreibt in seinem Roman "Munich" die Ereignisse rund um das Münchner Abkommen von 1938 - in einer radikal veränderten Stadt

Von Antje Weber

Wie wirkt der Königsplatz im Jahr 1938 auf einen britischen Diplomaten? "Es war schlimmer, als er erwartet hatte", heißt es in Robert Harris' Roman "München". Der Diplomat Hugh Legat, im Gefolge des Premierministers Chamberlain nach München gereist, ist fassungslos. Das "Kolossale des Anblicks" lässt ihn ruckartig stehen bleiben. "Der Park war beseitigt worden und einem riesigen militärischen Aufmarschareal für die Spektakel des Dritten Reichs gewichen. Statt auf Rasen blickte er auf Zehntausende Granitplatten. Statt Bäumen sah er eiserne Fahnenmasten. An zweien hingen Hakenkreuzfahnen, die über vierzig Meter hoch waren." Links und rechts stehen Ehrentempel für die Märtyrer des Hitlerputsches: "Im heißen Sonnenschein flackerten ewige Flammen, bewacht von zwei automatenhaft still stehenden SS-Männern, deren Gesicht schweißnass schimmerte."

Diese Beschreibung trifft es, nach allem, was man an Bild- und Filmmaterial über den Nationalsozialismus kennt, ziemlich genau. Und man kann davon ausgehen, dass der britische Bestsellerautor Robert Harris auch in den Details wenig dem Zufall überlassen hat. Der Roman, so schreibt er in der Danksagung am Ende, ist schließlich der "krönende Abschluss einer Faszination für das Münchner Abkommen, die über dreißig Jahre zurückreicht". Bereits 1988 hatte der Autor anlässlich des 50. Jahrestags der berühmten Konferenz eine BBC-Fernsehdokumentation mit dem Produzenten Denys Blakeway erarbeitet: "Seitdem haben wir beide uns eine leichte Obsession für das Thema erhalten."

Diese Obsession lebte Harris in intensiven Recherchen für seinen Roman "Munich" aus. Unter anderem reiste er nach München, um Hitlers ehemalige Wohnung am Prinzregentenplatz - heute ein Polizeirevier - zu besichtigen. Und um sich die Hochschule für Musik und Theater anzusehen, den einstigen "Führerbau", in dem die Staatschefs aufeinandertrafen; dort stellte Harris 2017 auch das fertige Buch vor. Dass es nun verfilmt wird, erstaunt nicht - der Roman wirkt so filmisch, als habe Harris beim Schreiben deutlich einzelne Szenen und Kameraperspektiven vor sich gesehen. Da zwei Handlungsstränge in immer gewagteren Volten aufeinander zulaufen, ist auch eine spannungsreiche Dramaturgie bereits vorgegeben.

Zur Handlung: Harris schildert vier Tage rund um die Unterzeichnung des Münchner Abkommens im September 1938. Die Regierungschefs Adolf Hitler, Neville Chamberlain, Édouard Daladier und Benito Mussolini vereinbarten damals die Abtretung der sudetendeutschen Gebiete der Tschechoslowakei an Deutschland. Um die eilige Vorbereitung des Abkommens - Briefe, Telefonate, Meetings - mit mehr Spannung aufzuladen, wechselt Harris zwischen der deutschen und der britischen Perspektive hin und her. Er erfindet zwei junge Karriere-Diplomaten, die dicht an ihren jeweiligen Regierungschefs dran sind: Hugh Legat arbeitet im engsten Zirkel Chamberlains in Downing Street Nummer 10, Paul von Hartmann wiederum bereitet als Diplomat im Berliner Reichsaußenministerium mit einem kleinen Kreis Oppositioneller aus Heer und Ministerien ein Attentat auf Hitler vor. Wie es die Laune des Schriftstellers will, kennen sich die beiden Diplomaten besser, als sie öffentlich zugeben wollen. Und dass ihre Freundschaft sich über die Jahre abgekühlt hat, liegt nur an einer Frau namens Lena.

Robert Harris würdigt besonders den britischen Premier Neville Chamberlain

Diese Lena dient als Figur ausschließlich dazu, in zwei kurzen Szenen die Wonnen der Lust und die Gräuel des Naziregimes aufblitzen zu lassen. Wie alle anderen Frauenfiguren - eine untreue Ehefrau oder emsig tippende Sekretärinnen - gewinnt sie keine eigenen Konturen, bleibt im Klischee stecken. Dies ist ein Roman, in dem Männer in den inneren Zirkeln der Macht wichtige Dinge tun; manchmal scheitern sie daran. Auch die männlichen Figuren sind meist etwas holzschnittartig gezeichnet. Harris ist sichtlich mehr an Handlung und Historie interessiert; am meisten fasziniert ihn der britische Premierminister, dessen "krähenartiges Profil" ihn "hart, unbeugsam, ja kriegerisch" erscheinen lässt. Ihn schildert der Autor als durchaus widersprüchlichen Charakter: demonstrativ bescheiden, dabei doch eitel, stur und trotz seines fortgeschrittenen Alters von unglaublich zäher Konstitution; dazu ein schlauer Verhandler, dem unberechenbaren Gegenpart Hitler in wechselseitiger Abscheu verbunden. Dass die Ergebnisse, mit denen Chamberlain aus München zurückkehrte, später als fehlgeschlagene Beschwichtigungspolitik gegenüber Hitler vehement kritisiert wurden, versucht Harris in ein freundlicheres Licht zu rücken: Er würdigt Chamberlain, von den kriegsmüden Menschen damals auch in Deutschland bejubelt, als Retter eines zumindest Aufschub gewährenden Friedens.

Wie der britische Premierminister den dreist mit Krieg drohenden Hitler zumindest kurzfristig einhegt, beeindruckt auch noch bei einer Zweitlektüre des Romans. Überhaupt liest man die Passagen über den Umgang mit einem gefährlichen, nah am Wahnsinn agierenden Führer nach vier Jahren Trump-Regierung und diversen Brexit-Volten Boris Johnsons heute noch einmal anders - im geschärften Bewusstsein dafür, wie schwierig es ist, populistischen, narzisstischen, lügenden Regierungschefs etwas entgegenzusetzen.

Was das alles mit München zu tun hat? Die Stadt erreichen die Romanhelden, zugegeben, erst auf Seite 242 von mehr als 400 Seiten. Aber dann! Dann lässt Harris die verschiedenen Schauplätze, ob Königsplatz, das Regina-Palast-Hotel oder Führerbau, atmosphärisch dicht vor den Augen der Leser erscheinen. Und er zoomt - einer der Höhepunkte - in Hitlers Arbeitszimmer: Da stehen sie nun, mit dem Rücken zum Kamin, Chamberlain "wie eine Wachsfigur" im grauen Nadelstreifenanzug, Daladier mit "vorstehendem Bauch", Mussolini grüblerisch und Hitler "teilnahmslos, mit toten Augen im bleichen Gesicht". Und unterschreiben Geschichte.

Robert Harris: München. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. Wilhelm Heyne Verlag 2017, 432 Seiten, Taschenbuch 10,99 Euro

© SZ vom 14.12.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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