SZ-Serie: München erlesen:Begegnungen auf Genitalhöhe

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Bis zu seinem Lebensende im vergangenen Jahr in München ein Geheimtipp: Ernst Augustin. (Foto: Regina Schmeken/SZ Photo)

Ernst Augustins Roman "Die Schule der Nackten" entfaltet freibadphilosophische Betrachtungen unter der Münchner Sonne.

Von Christian Jooß-Bernau

Im Juni 1982, endlich, beschloss das Münchner Kreisverwaltungsreferat "Toleranzzonen" und meinte damit einmal nicht die Prostitution, sondern nur die Nackerten, die nun endlich offiziell an drei Isarstellen, zwei Orten im Englischen Garten und am Feldmochinger See die Unterwäsche fallen lassen durften. Nacktsein wurde offiziell zu einem Teil der Stadtidentität, Ausweis einer hier nun aber wirklich unübersehbaren Liberalitas Bavarica, gegen die auch der Katholikenrat nicht anstinken konnte. 2003 erschien gut 30 Jahre später Ernst Augustins Roman "Die Schule der Nackten", in dem Haut und Literatur vor der Kulisse eines Münchner Sommers in einem Text von heiterer Luftigkeit zusammengeführt wurden.

Alexander ist 50. Ein Althistoriker mit den Forschungsschwerpunkten vorderasiatische Kulturen und frühgeschichtliche Menschheitsperioden, womit Augustin sich schon grundsätzlich eine Figur zurechtlegt, durch die Geistesgeschichte in großer Menge in die Sommerluft diffundieren kann. Alexander geht durch die Lücke in der Bretterwand im Jacobi-Bad, einer Idee von einem Bad mit FKK-Zone. Hier, wo man alles ablegt, begegnet der Wissenschaftler den Menschen auf Genitalhöhe. "Ungeheure Prügel" sieht man hier, "fürchterliche Hämmer", "glänzend rosafarben", "lange Zipfel" und "knappe Vorhäute". Was die Damen betrifft steigert der Erzähler die Diffizilität der Beschreibung analog zur anatomischen Komplexität gar ins Lyrische. Weniger Voyeurismus ist das, als eher ein dokumentarischer Drang, hinter dem man auch den wissenschaftlichen Blick Ernst Augustins selber vermuten kann, der als Neurologe und Psychiater arbeitete, bevor er sich ab den frühen 60ern verstärkt und dann vollends der Literatur widmete. Augustins Protagonist ist einer der mit Neugier zur hüllenlosen Existenz vordringt, aber gleichzeitig die Überhöhung sucht. Es ist ein Blick von Untenrum nach Oben, der als Ausgangsbasis für freibadphilosophische Betrachtungen von bezirzender Komik ist: "Er war mittelgroß, und er hatte ein bemerkenswert kleines Geschlechtsorgan, das wie ein Puppenkännchen aussah, von einem spärlichen Kranz offenbar noch nie geschnittener Haare umgeben. Jedenfalls schien man mit ihm ein Wort reden zu können."

So brät der Wissenschaftler tagein tagaus unter der Münchner Sonne. Des antiken Alexanders Brustschild ist ihm genauso Referenz wie ein "kleiner Priap" und - mit Sinn für Bosheit - "sexistisch, rassistisch und schön", ein Torso von Arno Breker. Um neuzeitliches Bodyshaming geht es ihm dabei nie, eher um Körpererkundung, wie bei den alten Damen: "Die Knie, die Oberschenkel, die Bauchhaut waren feinste Brüsseler Spitze". Um alles in Bewegung zu setzen aber fehlt Juliane: "Eine Astarte war das, eine Shakti, eine cyprische Aphrodite!" Altgriechisch oder hinduistisch muss es mindestens sein. Der Wissenschaftler verguckt sich und erkennt, dass seine Hautbegegnungen bis dahin nur an der Oberfläche kratzten. Denn Juliane hat ein Faible für Tantra, gepaart mit einem biografiebedingt verkorksten Zugang zu Sexualität, was Alexander an Grenzen bringt. Der Eroberungsversuch mit Dinner bei ihm daheim in Neuhausen, in der Gudrunstraße 9, schlägt fehl. Dabei ist sein Schlafzimmer eine Verführerhöhle mit Bananentapete und Bananenstauden, durch die das Licht "tropisch, etwas schwül" wird.

In dieser Einrichtung und mit diesen Absichten kehrt er bei Augustin wieder, der Münchner Stenz mit seinem schläfrig parfümierten Charme, der seinen idealen Lebensraum einst in den 80ern fand. Er lebt eine Form der Libertinage, deren sexuelle Offensichtlichkeit durch sein Bazitum doch immer etwas lausbübisch wirkt. "Die Schule der Nackten" ist ganz offensichtlich ein Roman, der in München spielen muss, für dessen Eigenheiten der im Riesengebirge geborene und 1958 aus der DDR geflohene Augustin einen Blick hat, den Eingeborene oft verloren haben.

Und dann taucht im Gefolge Julianes einer auf, der Alexander den Rang abzulaufen droht, ein bärtig, langhaariges Wesen: "Gekleidet war er in ein Hemd aus grobem braunem Stoff, fußlang, eine Art Kutte ohne Ärmel, und gestützt war er auf einen richtig langen Hirtenstock mit einer Gabel am oberen Ende, zu der er hinaufreichte, indem er den Unterarm hoch um den Stock wickelte." Wer hier nur das Relikt eines bewusstseinserweiterten Hippies sieht, greift wohl zu kurz. Dieser Kerl ist eine Erscheinung, wie aus dem München der 20er Jahre. Der Typus Lebensreformer, wie er sich in Persönlichkeiten wie Karl Wilhelm Diefenbach, Fidus oder Gusto Gräser ausformte, die im weiteren Sinne aus der Jugendstilbewegung hervorgehend eine Utopie der Körper-Geist-Gesamtheit anstrebten, gegen die aktuelle Esoteriktrends nur ein parfümiertes Schaumbad sind.

Dem Wissenschaftler ist dies alles eigentlich zu viel. Aber gehalten in einem Schwebezustand zwischen Anziehung und Abstoßung trägt ihn die Hoffnung auf mehr im Spätsommer in ein Tantraseminar - gemeinsam mit Juliane. Dort träumt er von "einem Weg auf dem niemand kam. Niemand außer dem Weg selbst." Aber so still erleuchtet bleibt er nicht, denn was den einen die Vergeistigung ist, ist dem unerhörten Alexander eine ausgewachsene Mordphantasie.

In München, dieser Stadt der Nackten, trennt einen nur hauchdünner Stoff vom Wahnwitz. Im Herbst dann mutiert das unwirkliche durchsonnte irdische Paradies zur erhebenden Kunststadt. Und der Wissenschaftler übersiedelt vom FKK-Bereich in die "Bibliothek der Bibliotheken", den Klenze-Bau, immerhin die "Vision eines arkadischen Zeitalters". Dort wird ihm klar: Nacktheit ist ohne Sonne eine fixe Idee, die man aber Kraft des Geistes zurückholen kann.

Unverschämt und überhitzt erzählt Augustins "Schule der Nackten", heute gelesen, von einem schwindenden München. In den Toleranzzonen muss man sie mittlerweile suchen, die Nackerten. Ironischerweise war es nicht der Katholikenrat, der ihnen den Spaß an der Freude verdarb, sondern die öffentliche Anerkennung. In Reiseführern angepriesen als lokale Sehenswürdigkeit, fanden sie sich wieder als begaffte Ausstellungsstücke, deren Haut zur Landestracht wurde. Dann doch lieber wieder Badeanzug.

Ernst Augustin: Die Schule der Nackten , DTV, 255 Seiten

© SZ vom 31.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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