Lesung:Schauder der Geschichte

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Robert Harris, hier 2017 bei einer Lesung in München aus seinem gleichnamigen Roman. (Foto: Johannes Simon)

Robert Harris stellt "München" vor - am passenden Ort

Von Antje Weber

Selten passt eine Lesung so gut zum Ort wie in diesem Fall. "Es ist unglaublich, hier zu sein", sagt Robert Harris am Freitagabend und blickt sich im Großen Konzertsaal der Hochschule für Musik und Theater in der Arcisstraße 12 um. Einst war dies die Große Halle des sogenannten Führerbaus: Von hier aus versuchte Reichskanzler Adolf Hitler, ein "Tausendjähriges Reich" zu errichten. Hier unterzeichnete er 1938 das berühmte "Münchner Abkommen" mit dem britischen Premierminister Neville Chamberlain, dem französischen Ministerpräsidenten Édouard Daladier und dem italienischen Regierungschef Benito Mussolini. Und genau dieses Abkommen hat der britische Bestsellerautor Harris nun ins Zentrum eines neuen Politthrillers gestellt, der auch noch den Ort als Titel trägt: "München".

Im Roman dauert es bis Seite 242, bis die Delegationen endlich in München eintreffen. Das "Kolossale" des "Königlichen Platzes", wie er damals hieß, lässt so manchen erschauern: statt Rasen Zehntausende Granitplatten, statt Bäumen eiserne Fahnenmasten mit Hakenkreuzfahnen, dazu von SS-Männern bewachte Ehrentempel mit ewigen Flammen. Daneben der Führerbau: "Alles funktional, weiß und grau und schwarz, gerade Linien, scharfe Kanten", schreibt Harris. So weit, so bekannt. Was hat den Autor nun aber gereizt an einem scheinbar ausgereizten Stoff?

Seit er einen Dokumentarfilm für die BBC gedreht habe, wollte er über das Thema schreiben, sagt Harris, eigentlich noch vor seinem Romandebüt "Vaterland". Damals, zum 50. Jahrestag in den Achtzigerjahren, konnte er sogar noch Zeitzeugen befragen, vor allem den späteren britischen Premier Alec Douglas-Home. Der habe allerdings, wie Harris näselnd imitiert, kaum mehr erzählt als: "Die französische Armee war verdorben bis in den Kern!"

Harris jedenfalls, gut aufgelegt und witzig, erzählt an diesem Abend einiges mehr. Er hat ja auch gründlich recherchiert, wie der Hochschulkanzler Alexander Krause bestätigt; einen ganzen Tag lang hat er ihn vor einem Jahr durchs Haus geführt. Bei aller Detailfreude geht es Harris aber vor allem um eines: Er will eine neue Sicht auf Chamberlain erreichen, viel geschmäht für seine letztlich erfolglose "Appeasement"-Politik. Hitler dagegen, sagt Harris, nannte Chamberlain damals ein "Arschloch", weil er sich von ihm am sofortigen Krieg gehindert fühlte. Sollte man Chamberlain also stärker dafür würdigen, dass er den Kriegsbeginn um ein Jahr verzögerte? Von heute aus schwer zu beurteilen; bevor Harris ins Erdgeschoss eilt, um jede Menge Bücher zu signieren, verweist er jedenfalls noch auf eines der Eingangszitate seines Buches: "Was heute Vergangenheit ist, dessen sollten wir uns immer bewusst sein, war einst Zukunft."

© SZ vom 13.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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