Lesung:Raum für Sehnsüchte

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Martina Borger stellt ihren neuen Roman online vor

Von Antje Weber, München

"Wir holen alles nach" - dieser Titel hallt heute natürlich anders nach, als er gedacht war. Es ist jedenfalls eine intensiv nachvollziehbare Sehnsucht, die als Leitmotiv in Martina Borgers neuem Roman aufscheint: Zwei in München lebende Frauen unterschiedlichen Alters denken darin über versäumte Lebenszeit und -chancen nach. Der alleinstehenden Rentnerin Ellen wird bewusst, dass sie nicht mehr alle Träume wird verwirklichen können. Und der alleinerziehenden Mutter Sina ist ständig präsent, dass sie zu viel Zeit für ihren Job und zu wenig für ihren achtjährigen Sohn aufbringt.

Verpasste Chancen sind derzeit auch für viele Schriftsteller ein großes Thema, da alle Lesungen ausfallen, mit denen sie sonst neben den Buchverkäufen ihren Lebensunterhalt verdienen. Die Monacensia macht nun, als eine Institution unter vielen, aus der Not eine Tugend: Martina Borger stellt ihren Roman an diesem Dienstag in einer Liveübertragung aus dem Forum Atelier des Literaturarchivs vor. Publikum gibt es zwar keines bei der von Lisa-Katharina Förster moderierten Lesung, dennoch ist sie interaktiv gedacht: Die Zuschauer können live auf Facebook Fragen stellen (oder vorher per Mail an monacensia.programm@muenchen.de). Und da die Autorin in München lebt, ist ja auch die Anreise kein Problem.

Obwohl Martina Borger bereits mehrere Romane veröffentlicht hat, unter anderem zusammen mit Maria Elisabeth Straub, ist die Journalistin und Dramaturgin wohl noch mehr als Drehbuchschreiberin bekannt, ob für die Dauer-Fernsehserie "Lindenstraße"oder als Chefautorin der BR-Serie "Dahoam is Dahoam". Dass sie ihr Handwerk bestens beherrscht und es liebt, Figuren und Plots zu entwickeln, merkt man auch "Wir holen alles nach" (Diogenes) an. Stilistische Finesse steht bei diesem linear in wechselnder Perspektive erzählten Roman nicht im Vordergrund; dafür merkt man die Sorgfalt, mit der Borger nach und nach die Eigenschaften und Motive ihrer Haupt- und Nebenfiguren preisgibt - allerdings nicht alle, so dass als Unterströmung immer eine gewisse Spannung bleibt.

Denn die Handlung und die Leserneugier wird von einer Frage angetrieben: Woher hat der Sohn von Sina all die blauen Flecken am Oberkörper, die auch der Rentnerin Ellen als seiner Nachhilfelehrerin auffallen? Sie können doch wohl nur vom neuen Lebensgefährten der Mutter stammen, einem trockenen Alkoholiker mit Problemen bei der Arbeitssuche? Interessanter noch als die Antwort auf diese Frage ist jedoch der Subtext dieses Münchner Mehrgenerationen-Panoramas. Die Autorin, 1956 geboren und damit nur einige Jahre jünger als ihre 68-jährige Protagonistin Ellen, fühlt sich nicht nur gut in die Lebenssituation einer ehemals sorglosen Geringverdienerin ein, die nun zu ihrer erschreckend mageren Rente im teuren München irgendwie dazuverdienen muss. Sie macht auch den Druck deutlich, der angesichts ständig steigender Mieten und fordernder Arbeitgeber auf jüngeren Frauen und Familien lastet. Und sie erzählt von den Schwierigkeiten, trotz allem ein gutes Leben zu führen, klimaschonend, engagiert, verantwortungsvoll.

Der Wiedererkennungswert für diverse Soziotope ist also hoch. Einer abkühlenden Gesellschaft setzt die Autorin in diesem Roman dabei Warmherzigkeit entgegen. Das ist sympathisch, und man bleibt gern dran an ihren Schilderungen eines Alltags, den man in aller Unvollkommenheit doch wieder herbeisehnt. Denn dann - holen wir alles nach!

Martina Borger , Livestream-Lesung, Dienstag, 5. Mai, 19 Uhr, www.facebook.com/Monacensia

© SZ vom 05.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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