Lerchenau:Erbaut mit bloßen Händen

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Die Siedlung im Münchner Norden blickt auf eine wechselvolle Geschichte zurück. Um ihren Namen zu erhalten, bedurfte es auch der Stimme der Königlich Bayerischen Feldzeugmeisterei. Am Samstag feiert die einstige Kolonie ihr Hundertjähriges

Von Jerzy Sobotta, Lerchenau

Mit einem Dutzend Häusern am Waldrand hat es angefangen. Ringsherum Kartoffeläcker und eine lange Feldstraße, die von der Münchner Stadtgrenze nach Feldmoching führte. "Lerchenau" wurde die Kolonie genannt - erst von den Gärtnern, die sich dort niederließen, dann von Beamten, die den Namen höchst offiziell in ihre Akten schrieben. Nach zahlreichen Ämtern und Verwaltungsstellen - darunter auch das Artilleriedepot und die Königlich Bayerische Feldzeugmeisterei - gab schließlich auch das Innenministerium im Mai 1919 seinen Segen und unterschrieb das Dokument. Inzwischen ist aus dem spröden Verwaltungsakt ein Gründungsmythos geworden, den die Lerchenauer kommenden Samstag mit Umzug, Andacht und Bürgerfest begehen werden.

Im Bild eine fast schon märchenhaft anmutende alte Aufnahme der Gärtnerei Pröbstl. (Foto: Privat)

Zwischen den gepflegten Einfamilienhäusern entlang der Lerchenauer Straße erinnert heute wenig an die bewegte Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als die darbenden Frontsoldaten verzweifelt nach einer Bleibe suchten. Einige Straßen weiter kann man aber immer noch durch ein Stück Gründungsgeschichte schlendern: Im Eggarten, dem ursprünglichen Zentrum der Kolonisten, stehen noch einige Häuser aus der Pionierzeit. Gebaut haben sie meist Bauernsöhne, die es aus dem ganzen Freistaat in die Fabriken von BMW, der Südbremse oder ins Leichtmetallwerk zog. Sie kamen als Tagelöhner und Untermieter, pachteten Land und bauten allmählich ihre Häuser auf. So entstand eine Arbeitersiedlung mit bäuerlichem Ambiente. Tiefrot - auch nachdem der weiße Terror durch die Straßen Münchens gefegt war.

Die heutige Lerchenauer Straße 178 um das Jahr 1911 herum: Der Wald hinter dem Garten reichte einst bis zur Schleißheimer Straße hinüber. (Foto: Privat)

Die Wahlergebnisse von 1929 sprechen für sich: KPD - 52 Prozent, SPD - 18 Prozent. In dieser Zeit wurde auch das Geburtshaus von Rudolf Ketterl gebaut. Sein Vater kam 1927 in die Lerchenau, wo er ein Grundstück an der Georginenstraße 465 bekam - die heute Berberitzenstraße heißt. Das Haus gibt es nicht mehr, aber die Erinnerung an die Kindheit in der Kolonie ist dem 84-Jährigen geblieben. Zur Schule musste er zu Fuß bis nach Feldmoching laufen. Auf den Straßen fuhren keine Autos, sondern Pferdefuhrwerke, Ochsen liefen umher. "Es war die schönste Zeit damals", sagt Ketterl, der an Sonntagen am Lerchenauer See auf einem riesigen Löffelbagger herumkletterte. Der Bagger grub Kies aus dem Boden. Kies, mit dem Hitler Autobahnen in Augsburg und Nürnberg baute - und mit dem er beinahe Ketterls Geburtshaus begraben ließ. An die Worte des Beamten, der die Nachricht überbrachte, erinnert sich der Lerchenauer noch heute: "Alle müssen weg! Wer nicht geht, wird zugeschüttet!"

Rudolf Ketterl (84) kann sich noch gut an seine Kindheit in der Lerchenau erinnern, die nicht immer einfach war. (Foto: Robert Haas)

Der Eggarten wurde 2019 nicht zum ersten Mal zum Abriss freigegeben. Schon Ende der Dreißigerjahre sollte auf dem Gelände ein riesiger Verschiebebahnhof entstehen. Dazu kam es letztlich nicht, trotzdem suchten die Siedler panisch nach einer neuen Bleibe. Die Ketterls fanden ein Grundstück weiter östlich in der Lerchenau, an der Adolf-Hitler-Straße 266 - die heutige Waldmeisterstraße. Wieder baute der Vater das Haus mit bloßen Händen auf. "Die Gruben haben wir mit Schaufeln und Pickeln ausgehoben", erinnert sich Ketterl zurück. Eines Tages kam sein Vater nach Hause: "Es gibt 20 Sack Zement. Wir müssen sie am Ostbahnhof abholen." Autos gab es nicht, also mussten sie den Zement "mit dem Heuwagerl" ziehen.

Der Krieg endete mit Fliegerbomben. Mit Panzergranaten deckten die Amerikaner die Siedlung ein, bevor sie am 30. April 1945 einmarschierten. Die Männer einer Flakstellung am Harthof wehrten sich verbissen, bis ihnen die Munition ausging. Tote, Gefangene, Wiederaufbau - auch in der Lerchenau. In das Haus der Ketterls wurden Vertriebene zugewiesen, sie lebten auf dem Dachboden. "Die Grundstücke waren billig, die Leute fleißig", sagt der 84-Jährige. Also wurde gebaut. Weil es nach dem Krieg keine Maschinen gab, schlossen sich die Menschen in der Nachbarschaftshilfe zusammen: "Man baute zusammen, erst bei dem einen, dann bei dem anderen." Von da an beginnt die Nachkriegsprosa: Die Lokalgeschichte wird zum Vereinsleben zwischen Almrausch-Enzian und Edelweiß-Stamm. Eigenheim und Wirtschaftswunder, das sieht man der Siedlung heute noch an. Auch die Vereine prägen noch immer das Viertel. Einige überlebten, neue kamen hinzu. Am Samstag kommen sie alle zusammen.

Die Feier zum Hundertjährigen beginnt am Samstag, 14. September, um 10 Uhr mit einem Festzug von der Gaststätte Eschengarten, Ebereschenstraße 17, zur Kirche, mit ökumenischer Andacht. Danach gibt es Spanferkel, Volkstänze und Verse. Auch ein Feuerwehrauto und ein "Veteranenspiel" zwischen dem SV Nord und dem FC Eintracht sind geplant.

© SZ vom 13.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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