Lerchenau:"Der Politik fehlt die Strategie"

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Ein Verlust der Lebensqualität: Die Städtebauliche Entwicklungsmaßnahme der Stadt im Münchner Norden verunsichert die Bevölkerung. Auch der Bund Naturschutz macht deutlich: Grünflächen müssen erhalten bleiben

Von Renate Winkler-Schlang, Lerchenau

Gefühlsmäßig sind alle im Saal von St. Agnes gegen die geplante SEM, die Städtebauliche Entwicklungsmaßnahme im Münchner Norden, wo ein großer Teil von fast 900 Hektar bisher meist landwirtschaftlich genutzter Flächen für den Wohnungsbau "geopfert" werden sollen. Auch die Nachverdichtung macht den Menschen Sorge. Sie fürchten um Lebensqualität. Christian Hierneis, der Kreischef des Bundes Naturschutz, hat bei einer Veranstaltung des Bürgervereins Lerchenau am Freitagabend 80 Bürgern mit seinem Vortrag "Warum wir unsere Grünflächen und unsere Landwirtschaft behalten müssen" Argumente an die Hand gegeben, mit denen sie sich wehren können.

Sein Fazit: "Der Politik fehlt die Strategie." Die Bürger waren begeistert: "Danke, ich bin ganz ergriffen. Sie haben so recht", erklärte die eine. "Respekt für Ihren Vortrag", lobte ein anderer. Sie waren nicht nur aus dem Münchner Norden gekommen, denn die Bürgervereins-Vorsitzenden Karola Kennerknecht und Helmut Jarvers hatten den Termin auch über die Interessengemeinschaft Fasanerie aktiv, die Aktionsgemeinschaft Rettet den Münchner Norden und das stadtweite Bündnis Gartenstadt München publiziert. Die Initiativen sind bestens vernetzt.

Rund um den Feldmochinger See sollen neue Siedlungsgebiete entstehen. (Foto: Florian Peljak)

Eingangs hatte die junge Studentin Johanna Grund aus ihrer ein Jahr zuvor fürs Maria-Ward-Gymnasium angefertigten fundierten und mit anschaulichen Vorher-Nachher-Fotos ergänzten Seminararbeit zur Nachverdichtung in der Lerchenau die Bürger sensibilisiert. "Lösungsansätze kommen für die Lerchenau möglicherweise zu spät", erklärte sie. Javers und Kennerknecht belegten den Siedlungsdruck mit Karten aus dem Jahren 1857 bis heute.

Hierneis erklärte, der Bund Naurschutz sei an rund 200 Bebauungsplanverfahren im Jahr beteiligt, obwohl er nur zu den großen Stellung nehmen müsse: "Es kann doch nicht sein, dass das immer so weitergeht." Erkannt hätten das in der Politik alle Ebenen - theoretisch. So forderte die Stadtrats-CSU kürzlich regionale Lebensmittel für Münchner Betriebskantinen. In städtischen Konzepten fänden sich Aussagen zur Beibehaltung der landwirtschaftlichen Nutzung. In der 2012 veröffentlichten Leitlinie Ökologie habe die Stadt sich vorgenommen, 800 Hektar zu entsiegeln: "Das Gegenteil ist passiert." Auf Landesebene setze sich das Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten für Artenvielvielfalt ein, auf Feldmochinger Äckern lebten die Vögel und Fledermäuse. Ein Bauer habe kürzlich 30 Kiebitze gezählt. Kartiert habe die Arten schon lange keiner mehr, der Bund Naturschutz rufe nun dazu auf, beim Spaziergang die Fauna zu dokumentieren und ihm die Fotos zuzusenden.

Wichtig seien die Felder auch als Kaltluftschneise; auf Münchens Klimakarten seien nur noch die Flächen ausreichend kühl, die bereits für eine SEM vorgesehen seien, ob im Osten oder im Norden. Doch stete Erwärmung führe am Ende zu gesundheitlichen Problemen - mit hohen Folgekosten für die Allgemeinheit. Bisher habe die Stadt stets erklärt, nach Freiham sei Schluss mit großen Neubauvierteln. In der Langfristigen Siedlungsentwicklung (Lasie) sei 2011 auch noch nicht die Rede gewesen von der SEM Nord. Das zeige, dass die Stadt nur noch reagiere, nicht gezielt gestalte. Die prognostizierten 300 000 Neubürger bis 2030 seien aber kein Naturgesetz, so Hierneis weiter. Warum weise die Stadt immer neue Gewerbegebiete aus? 300 000 neue Bewohner, das bedeute wegen des überlasteten öffentlichen Nahverkehrs mindestens 250 000 Autos, für die noch mehr Grün verschwinden werde. Dabei brauchten mehr Bewohner mehr Grün, nicht weniger. Für Schulen und Kitas müsse die Stadt finanziell in Vorleistung gehen, ehe die Neubürger sie mit neuen Steuern mitfinanzieren. Gleichzeitig aber bluteten andere Regionen aus, stünden dort Häuser leer. "Das funktioniert alles nicht mehr", so Hierneis.

Aber Bauernhöfe mit Ackerland wie in Ludwigsfeld sind Teil einer vielfältigen Kulturlandschaft. (Foto: Stephan Rumpf)

Die Bürger ergänzten den Vortrag mit eigenen Beispielen, griffen die Politik an: Die Stadträte läsen nicht einmal alle Vorlagen. Anja Burkhardt (CSU) und Renate Kürzdörfer (SPD) widersprachen. "Wenn Sie das schon lesen und dann zustimmen, ist es ja noch schlimmer", meinte einer. Burkhardt erklärte, sie wolle auch Einfamilien- und Reihenhausbau: Jeder solle entscheiden dürfen, wie er leben wolle. Kürzdörfer sagte, für die SEM Nord wolle die Stadt ja erst einmal eine Voruntersuchung für Wohnungsbau, inklusive ÖPNV, mit "Bürgerbeteiligungsverfahren in qualitätsvoller Form". Die Bürger gaben den Politikern einen Wunsch mit: "Bitte halten Sie sich nicht sklavisch an die vorgegebenen 8500 neuen Wohnungen pro Jahr."

© SZ vom 25.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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