Lerchenau:Ambivalenter Widerstandskämpfer

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Soll die Goerdelerstraße weiterhin so heißen? In Düsseldorf haben Lokalhistoriker über den Namensgeber geurteilt: Kategorie "unbelastet". (Foto: Alessandra Schellnegger)

Lokalhistoriker Klaus Mai plädiert für eine Umbenennung der Goerdelerstraße. Der Mitverschwörer des 20. Juli 1944 sei kein echter Anti-Nazi gewesen. Die Debatte wirft Fragen der deutschen Geschichte auf, etwa: Wann hört Opportunismus auf?

Von Jerzy Sobotta, Lerchenau

Eine Straße, benannt nach dem früheren Oberbürgermeister von Leipzig, der 1945 für seinen Widerstand gegen das Naziregime hingerichtet wurde, das klingt unverdächtig. So unverdächtig, wie die zwei Dutzend Doppelhaushälften, an deren Briefkästen Goerdelerstraße steht. In München sieht die Goerdelerstraße aus wie überall im Land, egal ob in Erlangen, Düsseldorf oder Delmenhorst. Sie ist nicht sehr lang und liegt irgendwo am Stadtrand in einer unscheinbaren Neubausiedlung aus der Nachkriegszeit. Doch seit einigen Monaten ist die Beschaulichkeit gestört. An 200 Metern Straße wird Grundsätzliches verhandelt: die moralische Bedeutung des deutschen Widerstands gegen die Nazis, die Zielsetzung von Geschichtspolitik heute.

Dabei ist der Anlass, überschattet durch die Corona-Krise, fast übersehen worden. Im März hatte die örtliche SPD beantragt, den Namen aus dem Münchner Straßenverzeichnis zu tilgen, aus Zweifel an der demokratischen Gesinnung Carl Friedrich Goerdelers. "Er wollte ein autoritäres System beibehalten. Er selbst war Teil davon, einer, der mit den Nazis seinen Frieden gemacht hat", sagt der Antragsteller, Lokalhistoriker Klaus Mai (SPD).

Dabei ist Goerdeler als Widerstandskämpfer bekannt. Er war Kopf einer Gruppe von konservativen Oppositionellen, in der Politiker und hohe Militärs gegen Hitler ein Komplott schmiedeten. Ihr Ziel war die Beendigung des Krieges durch einen Putsch und die Ernennung Goerdelers zum Reichskanzler. Einige seiner engsten Vertrauten beteiligten sich am 20. Juli 1944 an Stauffenbergs misslungenem Anschlag auf Hitler. Goerdeler versteckte sich zu dieser Zeit bereits vor der Gestapo, wurde aber kurze Zeit später festgenommen und im Februar 1945 hingerichtet.

Dass die SPD Goerdelers Namen trotzdem nicht im Stadtbild sehen will, liegt an seiner politischen Einstellung. Seit 1920 war er Mitglied in der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), einer rechten, antirepublikanischen Gruppierung, die ab 1930 mit den Nazis kooperierte. Auch Goerdeler war zunächst offen für Hitlers Machtergreifung und die totalitäre Propaganda. Anders als viele DNVP-Abgeordnete ist er Hitlers Partei nach 1933 aber nicht beigetreten. Er war Monarchist. Ob er auch Antisemit war, darüber streiten die Historiker.

"Goerdeler ist eine ambivalente Figur", sagt Paul-Moritz Rabe, Leiter der Forschungsabteilung am NS-Dokumentationszentrum. Goerdelers Widerstand sei weniger ideologischen Differenzen mit den Nazis entsprungen als den unterschiedlichen Vorstellungen von Wirtschafts- und Außenpolitik sowie seiner führenden Rolle als Kommunalpolitiker. Er habe sich dem Allmachtsanspruch der Nazis widersetzen wollen. Es sei also mehr um politisches Kompetenzgerangel gegangen, als um die Sorge über die Ausgrenzung und Vernichtung der Juden. Unter Historikern wird auch über die Motive der nationalkonservativen Verschwörer vom 20. Juli gestritten. Würde die Goerdelerstraße umbenannt, dann wäre es nur konsequent, auch der Stauffenbergstraße einen neuen Namen zu geben.

Die Goerdelerstraße wirft also die großen Fragen der deutschen Geschichte auf: Wann hört Opportunismus auf, wo fängt Widerstand an? Haben hochrangige Wehrmachtsoffiziere und deutschnationale Verwaltungsbeamte irgendwelche Gemeinsamkeiten etwa mit den Geschwistern Scholl oder Georg Elser? Oder all den namenlosen Sozialdemokraten und Kommunisten, die ab 1933 in den KZs gefoltert und gemordet worden sind? Den Lokalhistoriker Klaus Mai stört, dass beide Gruppen als "Widerstandskämpfer" bezeichnet werden. Ein Straßenname sei schließlich wie ein Denkmal: eine geschichtspolitische Absichtserklärung. "Wir sollten keine Menschen würdigen, deren Motivation ein militaristisches Ehrgefühl war. Das waren keine Demokraten", sagt Mai.

Müssen Straßennamen den moralischen Ansprüchen des heutigen Zeitgeists entsprechen oder sind sie Kinder ihrer Zeit? Diese Diskussion wird in der ganzen Welt geführt. In den USA, wo Kolumbus-Denkmäler fallen, in der Ukraine, wo Lenin-Büsten entfernt werden. Und in München, wo seit fünf Jahren die Namen aller Straßen auf ihre Vergangenheit hin untersucht werden. Die Entscheidung darüber, wie man mit historischer Ambivalenz umgeht, wird in München im Rathaus getroffen. Ein Expertengremium unter Federführung des Stadtarchivs bewertet zur Zeit rund 370 Straßen, darunter auch die Goerdelerstraße. Die Ergebnisse werden wohl nicht vor Ende des Jahres vorliegen.

In Düsseldorf haben die Historiker über ihre Carl-Friedrich-Goerdeler-Straße entschieden: "Kategorie: C - unbelastet." Allerdings mit dem Nachtrag, dass man so heute keine Straße mehr nennen würde.

© SZ vom 14.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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