Lebensborn-Heim:Aufgewachsen mit Lügengeschichten

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Gisela Heidenreich hat Mechanismen gefunden, mit den Verletzungen der Vergangenheit umzugehen. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Gisela Heidenreich kam in einem Lebensborn-Heim zur Welt. Lange wusste sie gar nicht, was das bedeutet. Kurz vor dem Abitur fiel ihr ein Brief ihrer Mutter in die Hände. Heute glaubt die Schriftstellerin, dass sie nie alles über ihre Vergangenheit erfahren wird.

Von Isabel Meixner, Seefeld

Manchmal, gibt Gisela Heidenreich zu, würde sie am liebsten abschalten, nie wieder Nazigeschichten hören und die Vergangenheit Vergangenheit sein lassen. Aber dann erkennt sie, dass sie nicht schweigen kann. Dass ihr Schicksal Folge der "blödsinnigen NS-Ideologie" ist und sie nicht möchte, dass sich derartiges wiederholt. "Der Lebensborn der Nazis war keine Spinnerei. Der Rassenwahn war die Grundlage des Holocaust", sagt die 70-jährige Schriftstellerin.

Gisela Heidenreich weiß, wovon sie redet: Geboren 1943 in einem Lebensborn-Heim in Oslo, ist sie ein Ergebnis des Aufrufs von SS-Reichsführer Heinrich Himmler von 1942, dass SS-Männer auch durch außereheliche Zeugungen für die Vermehrung des "kostbaren deutschen Blutes" zu sorgen haben. Heidenreichs Mutter: eine überzeugte Mitarbeiterin des Lebensborn-Vereins, die später als eine der Hauptzeugen in den Nürnberger Prozessen gegen den Lebensborn aussagte. Ihr Vater: ein Funker in Diensten der SS, der sich über die Geburt der Tochter freute, weil er damit Himmlers Auftrag erfüllt hatte.

Das Gefühl, angelogen zu werden

Lange wusste Heidenreich als Kind nicht, was das bedeutete: "Lebensborn". Für sie war das der Name des Heims, in dem sie zur Welt kam, nicht jener SS-Verein, in dem unverheiratete Frauen ihre "arischen Kinder" gebären und unter Umständen gleich zur Adoption freigeben konnten. Allerdings habe sie schon immer gefühlt, "dass mit mir etwas nicht stimmt": "Das Gefühl, angelogen zu werden, hat sich durch meine Geschichte gezogen." Sie sollte recht behalten.

Kurz vor ihrem Abitur fiel ihr durch Zufall ein Brief in die Hände, der an ihre Mutter adressiert war. Der Absender: ihre Oma väterlicherseits aus Weimar. Der Inhalt des Schreibens habe ihr den Boden unter den Füßen weggezogen, sagt Heidenreich. Er offenbarte, dass ihr Vater lebte und nicht im Zweiten Weltkrieg gefallen war. Dass ihre Familie sie all die Jahre angelogen hatte und ihr die Wahrheit über ihre Zeugung bewusst vorenthalten hatte - wohl aus Scham. "Das war furchtbar", sagt Heidenreich.

Es war nicht die einzige Lügengeschichte in ihrem Leben. Ihre Mutter Emilie Edelmann hatte sie nach der Geburt bei ihrer Schwester in Bad Tölz untergebracht - offiziell als norwegisches Waisenkind. Die Lüge fiel zunächst nicht auf. Heidenreich sieht aus, wie man sich eine Norwegerin vorstellt: Sie hat lange, hellblonde Haare, blaue Augen, eine für eine Frau große Statur. Erst als ihr Onkel aus dem Krieg zurückkam und Gisela mit dem Satz "Was macht denn der SS-Bankert da?" zurückwies, merkte sie, dass ihre Tante nicht ihre Mutter war. Später erfuhr sie durch Zufall von einer Freundin, was es mit dem Lebensborn auf sich hatte, aber auf ihre Fragen wich ihre Mutter aus - wie so oft in all den Jahren: "Man hat mich im Regen stehen lassen."

Wut auf die Mutter

Und dann jener Brief kurz vor dem Abitur. "Ich war wahnsinnig wütend auf meine Mutter", sagt Heidenreich. Ein paar Wochen später der nächste Schock: Gerade als sie sich ausmalt, wie sie bei ihrem Vater vor der Tür stehen und was sie sagen würde, klingelt es an der Haustür. Die damals 18-Jährige öffnet. Vor ihr steht ein blondes, blauäugiges Mädchen: "Hallo, ich bin deine Schwester."

"Ich habe erst einmal die Tür zugeknallt", sagt Heidenreich heute trocken. Doch all diese Erfahrungen brannten sich ein. Das Gefühl der permanenten Verunsicherung habe sie ihr Leben lang begleitet, sagt sie. Grundvertrauen? "Das ist mühsam bis zum heutigen Tag." Ihre erste Ehe scheiterte, auch ihr jetziger Mann, Fernseh- und Radiosprecher Gert Heidenreich, hat einmal in einem Interview gesagt, dass es manchmal nicht leicht mit seiner Frau sei. Heidenreich weiß selbst: "Ich bin wahnsinnig empfindlich, wenn mich jemand anschwindelt."

Diese Wut habe sie ihre Mutter lange spüren lassen. "Sie hat ihr Leben lang Halbwahrheiten erzählt." Dann entschied sie sich, über ihr Schicksal ein Buch zu schreiben. Sie fing an, über den Lebensborn zu recherchieren und flog nach Norwegen - in ihr Geburtsland, das sie zuvor noch nie gesehen hatte. Ihre Mutter half ihr anfangs nur widerwillig. "Sie hat immer gesagt: Ich habe doch Gutes getan." Doch letztlich arbeitete sie an dem Buch mit. Heidenreich machte das Lebensbornheim in Klaekken ausfindig, in dem heute ein Hotel ist, traf den früheren Hausmeister der SS-Einrichtung - und erfuhr, unter welchen Umständen sie ihren Namen erhalten hatte: in einem mit Blumen geschmückten Weiheraum unter einer SS-Fahne, und die Eltern gelobten feierlich, das Kind im Sinne des Nationalsozialismus großzuziehen.

Mittlerweile, sagt Heidenreich, habe sie Mechanismen gefunden, mit den Verletzungen der Vergangenheit umzugehen. Ihr Psychologiestudium und ihre Ausbildung zur Paar- und Familientherapeutin haben ihr dabei geholfen. Heute schafft sie es, fast schon routiniert und sehr sachlich über ihr Schicksal zu sprechen. Nur manchmal hebt sich ihre ansonsten dunkle Stimme. Dann zieht sie kurz ihre Augenbrauen hoch und atmet tief durch. Etwa, als sie davon erzählt, wie ihre Mutter ihr kurz vor dem Tod dafür gedankt hat, dass sie ihrer beider Geschichte in dem Buch aufgearbeitet hat. Es war der Moment, in dem Gisela Heidenreich ihren Frieden mit ihrer Mutter machte.

Zumindest für ein paar Tage. Dann die nächste Enttäuschung: Beim Ausräumen der Wohnung in München fand Heidenreich einen verrußten Karton mit mehr als 300 Briefen von Horst Wagner. Ein NS-Schreibtischtäter, der als Referatsleiter im Auswärtigen Amt für die Deportation von 350 000 Juden verantwortlich war, wie sie später herausfand. Er war die große Liebe ihrer Mutter, wie aus den Briefen hervorging. Sie verhalf Wagner 1948 über die "Rattenlinie" zur Flucht nach Rom und weiter nach Argentinien. Als Heidenreich die Briefe in den Händen hielt, habe sie "einen völligen Einbruch" erlitten. Doch sie unterdrückte ihre wieder aufkeimende Wut, "ich habe mir es verboten. Ich wollte das nicht mehr".

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Derzeit plant Heidenreich ihr fünftes Buch. Darin will sie über die gestohlenen Kinder aus Osteuropa schreiben, die ihre Mutter an deutsche Familien vermittelt hat. Ob sie das Gefühl hat, alles aus ihrer Vergangenheit zu wissen? "Nein. Da wird nie alles rauskommen."

Ihren Vater hatte Gisela Heidenreich kurz nach ihrem Abitur kennengelernt. Ihre Wut, von ihm allein gelassen worden zu sein, verschwand in jenem Moment, als sie ihn das erste Mal sah. "Er nahm mich in den Arm und sagte: 'Ach, was habe ich für eine schöne Tochter'." Wieder atmet Heidenreich kurz durch. Sie stellte ihrem Vater viele Fragen, erfuhr, dass es durchaus Gefühle zwischen ihren Eltern gegeben hatte. Wie wichtig ihr das ist? "Sehr", betont Heidenreich, die heute in Seefeld am Ammersee lebt. "Es ist mir wichtig, nicht nur aus ideologischen Gründen gezeugt worden zu sein."

Sie kennt viele Lebensbornkinder, die nie etwas über ihre Herkunft erfahren haben. Insofern sei sie privilegiert. Bis heute hat Gisela Heidenreich ein sehr gutes Verhältnis zu ihrer Halbschwester und ihren zwei Halbbrüdern: "Das ist das Allerbeste an der Geschichte."

© SZ vom 29.07.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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