Wiesn-Kultur ergründet:Maß und Massen

Lesezeit: 6 min

"Hölle, Hölle, Hölle": Das Oktoberfest ist ein teuflischer Dampfkessel voller Bier, Schweiß und Bratenfett - und gerade deshalb ein Ort der irdischen Freuden. Da tanzt sogar die schmallippige Sekretärin großzügig dekolletiert auf der Bank.

Wolfgang Görl

Wer auf der Wiesn mit seinen Kollegen verabredet ist und, weil er noch im Büro zu tun hatte, zwei, drei Stunden verspätet im Bierzelt eintrifft, gerät in Gefahr, an der Welt, womöglich sogar am Oktoberfest zu zweifeln. Da hatte man am Morgen noch mit durchaus seriösen Menschen zu tun, die vor Aktenbergen hockten und mit einem forschen "Mahlzeit" zum Kantinengang aufbrachen, und jetzt erkennt man sie nicht wieder.

Gäste aus Italien auf dem Münchner Oktoberfest: Die Wiesn ist bei jungen Leuten längst zur Populär-Kultur geworden. Und hat sich dabei immer etwas Münchnerisches bewahrt. (Foto: Stephan Rumpf)

Ist der Mann mit dem Räuberhut und der aufgeknoteten Krawatte, die wie eine tote Schlange an seinem Hals hängt, wirklich der akkurate Buchhalter K.? Handelt es sich bei der Dame im großzügig dekolletierten Dirndl, die unentwegt "Who the fuck is Alice?" ruft, tatsächlich um die schmallippige Sekretärin Sch.-B., die an ihrem Arbeitsplatz eine Bußgeld-Verordnung für Chauvi-Sprüche eingeführt hat? Und wer ist der Herr, der glasigen Blicks abgenagte Hühnerknochen in die Menge wirft? Doch nicht der Abteilungsleiter M.! Obwohl: Physiognomisch ist er eindeutig mit M. identisch.

Wenn die Festkapelle dann noch Wolfgang Petrys "Hölle Hölle Hölle" schmettert, wähnt sich der Neuankömmling eben dort: in einem teuflischen Dampfkessel voller Bier, Schweiß und Bratenfett, in dem die Delinquenten so lange weichgekocht werden, bis sie den Zustand vollkommener Geistlosigkeit als den Gipfel des Glücks empfinden. "Nichts wie weg!", befiehlt eine innere Stimme, die aus jenen Schichten des Gehirns dringt, in denen die gute Erziehung gespeichert ist. In diesem Moment ist Flucht noch möglich - aber wehe, man lässt sich vom Sirenengesang aus 6000 Kehlen betören und bestellt eine Maß. Dann gibt es kein Zurück mehr.

Dann sitzt man drin im Dampfkessel, eingeklemmt zwischen Sekretärin und Buchhalter, die einem nach der dritten Maß gar nicht mehr so sonderbar vorkommen, und auch die Musik verliert ihren Schrecken, zumal es ohne sie undenkbar wäre, auf der Sitzbank zu tanzen und dabei heimlich Hühnerknochen auf den Abteilungsleiter zu werfen. Über den weiteren Verlauf des Abends kursieren am folgenden Tag widersprüchliche Berichte, sofern sich überhaupt noch jemand erinnern kann.

In Fällen wie diesen einigen sich Beteiligten in der Regel darauf, dass die Sache eine Mordsgaudi war, und damit basta. Es gibt aber auch - nicht zuletzt in München - erbitterte Wiesn-Verächter, die das Fest als Massenbesäufnis, als einen Nepp sondergleichen und überhaupt als eine Veranstaltung betrachten, auf der ein kultivierter Mensch nichts verloren habe. Angesichts dieses Befunds ist es verwunderlich, dass sich das Oktoberfest 200 Jahre lang halten konnte und sogar Anklang bei durchaus kultivierten Männern findet. Einer von ihnen war der amerikanische Schriftsteller Thomas Wolfe (1900-1938), der Ende der zwanziger Jahre München besuchte. 1929 schrieb er die Erzählung "Oktoberfest", eine hinreißende Momentaufnahme, die zeigt, dass der Blick eines Fremden oft schärfer ist als die von Gewohnheit geprägte Sicht des Einheimischen.

Im ersten Moment hatte die Wiesn etwas Erschreckendes für Wolfe, er spricht von "Menschenhorden", in denen etwas Unheimliches waberte, "etwas, so dunkel und seltsam wie Asien, etwas, das älter war als die alten barbarischen Wälder, etwas, das um einen Altar geschwankt war und ein Menschenopfer dargebracht und verbranntes Fleisch verzehrt hatte". Wolfe lässt sich nicht abschrecken, und nach längerem Suchen findet er einen Platz im Bierzelt. Er bestellt sich eine Maß, vier junge Leute gesellen sich zu ihm. Und mit einem Mal ändert sich sein Ton. Er gerät in Schwärmen, schildert hingebungsvoll, wie "die Nebel des starken und berauschenden Biers, und noch mehr die Nebel der Geselligkeit und Zuneigung, der Freundschaft und menschlichen Wärme, uns zu Kopf und Herz gestiegen waren".

Was ist da passiert? Offensichtlich ist Wolfe in den Sog geraten, den eine feiernde, johlende und von der eigenen, ungestümen Kraft berauschte Menschenmenge ausübt. Mit einem Mal möchte man dazugehören, möchte aufgehen in der Masse, teilhaben am kollektiven Rausch. Das Beängstigende weicht der Faszination, die die brodelnde Menge ausübt, wenn sie in einem riesigen, herrschaftlich dekorierten Bierzelt ausschließlich der lustvollen Feier des Augenblicks hingegeben ist.

Da kann man nicht abseits stehen und den kühlen Beobachter mimen, da muss man mitmachen, auf die Gefahr hin, sich im Laufe des Abends mit den übelsten Rauschkugeln zu verbrüdern, zu tief in den Maßkrug oder ein Dekollete zu schauen oder auf andere Weise vom rechten Weg abzukommen. Dies ist das pralle Leben! Was will man mehr? "Jedermann aß; jedermann trank", schreibt Thomas Wolfe. "Ein mörderischer Hunger, ein Hunger, der keine Besänftigung kannte, der sich alles gebratene Ochsenfleisch, alle Würste, allen Salzfisch auf der Welt einverleiben wollte, packte mich und hielt mich in seinen Klauen. Auf der ganzen Welt gab es nichts als Essen - glorreiches Essen. Und Bier - Oktoberfestbier."

Eines verschweigt Thomas Wolfe. Die Wiesn ist für die Münchner das, was der Brunftplatz für das Rotwild ist. Mag sein, dass die erotischen Signale in früheren Zeiten ein wenig dezenter waren als heute, zweifellos aber beschränkte sich das Interesse zumindest der jüngeren Wiesnbummler nicht nur aufs Essen und Trinken. Es sollte schon mehr herausspringen, ein Flirt, ein Abenteuer. Ödön von Horváths grandioses Volksstück "Kasimir und Karoline", geschrieben 1931, ist so ein erotischer Wiesn-Reigen, ein trauriger im Übrigen, an dessen Schluss die Liebenden entzweit sind. Aber dies muss nicht das letzte Wort sein. Es wäre ein Wunder, würde der Reigen am folgenden Tag nicht von neuem beginnen, denn das Oktoberfest mit seinen Phantasiepalästen, Wunderapparaten und Illusionstheatern ist ein Ort der Verheißung, an dem jeder hoffen darf, dem Glück zu begegnen.

Ob der Besucher sein Glück im Bierrausch findet oder im erotischen Taumel - in jedem Fall sieht er nach ein paar Stunden im überfüllten Bierzelt abgekämpft und derangiert aus. Das Hemd ist schweißnass, die Frisur zerstört, und insgesamt macht der Körper den Eindruck, als hätte er eine dreistündige Fahrt im Kettenkarussel hinter sich. Auch ohne Rauferei ist ein Wiesnabend enorm kräftezehrend, weshalb es geradezu ein Hohn ist, wenn die Kapelle alle naslang das "Prosit der Gemütlichkeit" anstimmt. Gemütlich geht es auf dem Oktoberfest allenfalls während der Mittagsstunden zu, später verwandeln sich die Zelte in eine Bierkampfzone, in der Härte und Behauptungswille gefragt sind.

Die vorherrschende Ungemütlichkeit ist aber auch nötig, um die Kontrollmechanismen außer Kraft zu setzen, die der spontanen Paarbildung im Wege stehen. Im Hexenkessel lässt man sich leichter gehen als in beschaulicher Runde. Deshalb ist es meistens Heuchelei, wenn die Wiesngäste auf die Gemütlichkeit anstoßen. Sie würden dumm schauen, würde diese sich tatsächlich einstellen. Mit amourösen Verwicklungen dürften sie dann nicht mehr rechnen. Gemütlichkeit ist ein Zustand der Selbstgenügsamkeit, und deshalb ist es gut, wenn sie auf der Wiesn nur spärlich vorkommt.

Übrigens dienen auch die Fahrgeschäfte in erster Linie dazu, die Menschen in unbequeme Zustände zu versetzen. Um deren Körper möglichst umfassend zu malträtieren, haben Ingenieure im Laufe der Jahrzehnte immer raffiniertere Apparate entwickelt. Wer sich auf der Wiesn in eine dieser Turboschleudern wagt, wird auf den Kopf gestellt, horizontal und vertikal herumgewirbelt, dem freien Fall ausgesetzt oder himmelwärts katapultiert. Auf den ersten Blick ist es verrückt, dass sich die Menschen das antun. Aber ist nicht die ganze Wiesn verrückt? Ja, das ist sie. Andernfalls hätte man sie längst abgeschafft.

Wer aufs Oktoberfest geht, sucht den Rausch - sei es im Bierzelt, sei es auf der Achterbahn. Er will heraustreten aus dem Alltag, seine Fesseln ablegen und sich und sein Leben vorübergehend auf den Kopf stellen. Die Wiesn ist, wie der rheinische Karneval, ein Ausnahmezustand.

Vor 200 Jahren, als die Geschichte des Oktoberfests mit einem Pferderennen begann, wussten die Münchner noch, was sie feierten: die Hochzeit des Kronzprinzen. In den folgenden Jahren hat man auf der Theresienwiese die bayerische Monarchie hochleben lassen, bis diese verschwand. Die Wiesn blieb. Sie hatte sich längst gelöst vom Herrscherhaus, ja eigentlich von allen höheren Zwecken. Sie hat sich angepasst an den Zeitgeist, und weil es aus der Mode gekommen ist, den Herrschenden, und sei es der Oberbürgermeister, ein Fest zu widmen, feiern die Münchner die Wiesn einfach so.

Falls es doch eines Grundes bedarf, dann ist es vielleicht dieser: Das Oktoberfest ist eine Huldigung an das irdische Leben mit all seinen Genüssen, die ja gerade in katholischen Ländern überaus geschätzt werden - entweder als Vorgeschmack auf die himmlischen Freuden oder als Entschädigung für kirchlich auferlegte Entbehrungen. Setzt man dies voraus, ist München von Natur aus der ideale Standort der Wiesn: Hier hat man es seit je verstanden, die christkatholischen Grundsätze so hoch zu halten, dass darunter genug Spielraum für kleinere und größere Sünden bleibt. Man könnte sogar auf die Idee kommen, das Oktoberfest sei geschaffen worden, um die Ausschweifungen auf das überschaubare Areal der Theresienwiese zu begrenzen. Sofern dies der Plan war, ist er gescheitert.

© SZ vom 10.09.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: