SZ-Adventskalender:Hungern im Speckgürtel

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Mehrere hundert Menschen sind auf die Tafel in Ottobrunn, Höhenkirchen-Siegertsbrunn und Aying angewiesen. Ein Braten für die Festtage fällt auch dort nicht ab

Von Markus Mayr, Ottobrunn

Freitagvormittag, 10.50 Uhr. Manche Bedürftige sind überpünktlich. Die Tür zur gedeckten Tafel des Caritas-Tischs Südost in Ottobrunn wird sich zwar erst in 40 Minuten öffnen. Doch einige Leute warten schon vor dem Gemeindehaus der Kirche St. Magdalena. Allmählich werden sie sich zu Grüppchen zusammenschließen. Einer von ihnen trägt eine dunkle Brille. Vielleicht, weil die Sonne wirklich grell scheint an diesem Novembervormittag. Vielleicht aber auch, weil er nicht will, dass jemand seinen Blick einfängt. Er steht abseits, schweigt, dreht den Kopf weg, wenn jemand an ihm vorbeiläuft. Der Gang zur Tafel fällt den Menschen sichtlich nicht leicht. Die Wartenden drücken sich vor dem Eingang herum, wollen nicht auffallen. Ihre Rucksäcke hängen schlaff von ihren Schultern, noch sind ihre beräderten Taschen leer.

Jeden Freitag improvisiert Gabriele Zapf von der Caritas mit Hilfe von 90 Freiwilligen einen kleinen Supermarkt, den sie mit Lebensmittelspenden bestücken: erst in Ottobrunn, dann in Höhenkirchen-Siegertsbrunn und am späten Nachmittag in Aying. Jeder Einkauf dort kostet nur einen Euro, egal wie voll die Tasche am Ende ist. Der "symbolische Betrag" gebe den Gästen der Tafel das Gefühl, etwas einzukaufen, sagt Zapf, und helfe ihnen, ihre Würde zu bewahren. Die Kosten, die das Team Tisch Südost hat, deckt diese Summe freilich nicht.

Die Ehrenamtlichen arbeiten selbstverständlich unentgeltlich, allerdings müssen sie Lebensmittel zukaufen, um den Bedarf an Grundnahrungsmitteln zu decken. 360 Menschen sind in den drei Gemeinden auf die Tafel angewiesen, 120 davon sind Kinder. "Gerade Milchprodukte haben wir immer zu wenig", sagt Zapf. Die gespendete Ware der etwa 40 Groß- und Einzelhändler aus der Region reiche oft nicht aus. Zudem sei einer der drei Kühltransporter, mit denen die Helfenden die Ware abholen, im Begriff, seine letzten Kilometer hinter sich zu bringen. Ein Ersatz muss her. Das neue gebrauchte Auto wird sich über private Spenden finanzieren müssen. Denn Rücklagen liegen in der Kasse des Projekts keine. So viel hat der Caritas-Tisch Südost mit seinen Besuchern auf jeden Fall gemein.

Seit dem frühen Morgen wuseln Freiwillige durch das Ottobrunner Gemeindezentrum. Sie sortieren Lebensmittel, die weitere Ehrenamtliche in Transportern anliefern. Schimmelige Erdbeeren fliegen in die Tonne. Der Salat, von welken Blättern befreit, sieht wieder appetitlich aus. Frauen und Männer, die meisten von ihnen im Rentenalter, ordnen die Waren auf Tischen an, die u-förmig aufgestellt sind. Hier türmen sie Salate, Gemüse und Obst auf, dort stapeln sie Brot und süße Backwaren. Milch und Joghurt kommen hier hin, Nudeln und Reis dort drüben.

Besuche bei Menschen, denen das Geld zum Leben kaum reicht oder die mit einer schweren Krankheit kämpfen, gehen den Gute-Werke-Reporterinnen und -Reportern häufig sehr nahe. (Foto: Catherina Hess)

Tiefgefrorenen Gänse, wie die in der roten Kiste, schaffen es sicher nicht jede Woche bis zur Tafel. Können sich da wenige Glückliche über einen saftigen Braten an Weihnachten freuen? "Leider müssen wir die wegwerfen", sagt die Frau und hält die Kiste ihrer Kollegin hin. Die guckt prüfend und nickt: "Die sind schon zu lange abgelaufen." Dabei sehen sie noch tadellos aus. Aber besonders bei Fleisch will hier niemand das Risiko eingehen, den Leuten verdorbene Ware mit nach Hause zu geben. Eigentlich machen sie beim Tisch etwas, das kein Supermarkt darf, geschweige denn sich trauen würde: Sie missachten das oft überbewertete Mindesthaltbarkeitsdatum . Was noch gut aussieht, legen sie für ihre Kunden aus. Gabriele Zapf sagt: "Es werden ohnehin zu viele Lebensmittel weggeworfen."

Der Pulk der Wartenden vor dem Pfarrgemeindehaus ist um kurz vor halb zwölf deutlich größer geworden - und lauter. Der Mann mit der Sonnenbrille unterhält sich inzwischen. Man kennt sich ja, sieht sich doch jeden Freitag. Eine Frau erzählt, dass ein paar der Tafelbesucher gute Bekannte, sogar Freunde geworden seien, die sie auch abseits der Ausgabestelle treffe. Das ist eine schöne Geschichte inmitten dieser vielen Lebensgeschichten, die alle auf einem Blatt stehen, das sich irgendwann gewendet hat. Alle hier leben an der Armutsgrenze. Alle hier warten darauf, dass sie bald ihren Kühlschrank für die kommende Woche füllen können. Sie tragen einen Ausweis um den Hals oder in der Hand. Dieses Kärtchen - von der Caritas ausgestellt - beweist, dass der Träger zu wenig hat, um sich ausreichend zu versorgen. Ob und wie viele Kinder er ernähren muss, verrät das Schildchen auch. Die Ausgabe der Lebensmittel ist streng geregelt.

Lange Schlangen bei der Tafel Ottobrunn zu jeder Jahreszeit: Der Andrang an der Ausgabestelle ist groß. (Foto: Catherina Hess)

Jeder Bedürftige hat eine Nummer. An diesem Freitag dürfen die Nummern 31 bis 40 als erstes in den Raum mit der Tafel. Verlässt einer den Saal, kommen der Reihe nach die anderen dran. Der mit der Nummer 30 hat es heute am schlechtesten erwischt. Vor ihm können - wenn alle 250 Ottobrunner Berechtigten da sind - 249 Menschen auswählen, was sie gerne hätten. Um auch noch für die Nummer 30 genug Essbares vorhalten zu können, muss das Versorgerteam vorausschauend planen und knappe Ware ausreichend zukaufen. Denn nicht nur Nummer 30 will noch essen, sondern auch die Höhenkirchner. Um 14 Uhr soll dort ein gedeckter Tisch auf die Gäste warten. Um 16 Uhr dann in Aying.

© SZ vom 05.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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