Suchtprävention:"Jeder hat seine eigene Geschichte"

Lesezeit: 2 min

Im Jugendzentrum Route 66 wird ein Informationsblatt über das Angebot des Blauen Kreuzes an die Pinwand gehängt. Jeden Mittwoch sind Treffen. (Foto: Claus Schunk)

Das Blaue Kreuz richtet in Haar eine Selbsthilfegruppe für Jugendliche ein. Der Beratungsbedarf zum Thema Sucht steigt

Von Yannik Schuster, Haar

"Kein Alkoholiker gleicht dem anderen. Jeder hat seine eigene Geschichte", sagt Martin. Martin, dessen Nachname wie in der Suchthilfe üblich, ungenannt bleibt, war früher selbst suchtkrank. Heute leitet er Selbsthilfegruppen für den Verein Blaues Kreuz München. Eine davon, die sich an Jugendliche und junge Erwachsene bis zum Alter von 26 Jahren richtet, ist in diesen Tagen im Jugendzentrum Route 66 in Haar erstmals zusammengekommen. Sie wurde eingerichtet, weil aus Sicht des Blauen Kreuzes die Suchtgefahr gerade unter Jugendlichen wächst. Man komme der steigenden Nachfrage entgegen, teilt die Organisation mit. Es gehe um gemeinsamen "Austausch auf Augenhöhe" und "Hilfe zur Selbsthilfe".

Das neue Angebot, das Martin als Vertreter des Blauen Kreuzes moderiert, soll dabei nicht nur Suchtgefährdete und Suchtkranke ansprechen, sondern auch Angehörige und junge Menschen aus einem suchtbelasteten Umfeld. Norbert Gerstlacher, Sprecher des Blauen Kreuzes München, sagt, das aktuelle Angebot im Sektor Suchtkrankheit sei in der Region "ein großes Manko". Man strebe eine engere Zusammenarbeit mit den Jugendämtern und einen weiteren Ausbau der Angebote an. Die Personalsuche gestalte sich, auch aufgrund der dafür notwendigen zweijährigen Ausbildung zum ambulanten Suchtkrankenhelfer, jedoch als schwierig. Für Martin stellt die Gruppenleitung eine Möglichkeit dar, weiter an sich zu arbeiten.

Ihm hat eine Selbsthilfegruppe einst auch aus der Sucht geholfen. Er erzählt von dieser einschneidenden Erfahrung. Eine solche Gruppe in Präsenz biete Konstanz im Leben und Ansprechpartner, wenn der Drang nach dem Suchtmittel überhand nehme. Das wöchentliche Treffen führe zudem dazu, dass man sich regelmäßig mit der eigenen Krankheit befasse und über die Woche hinweg zweimal überlege, ob man zum Glas greife. Im gegenseitigen Austausch lerne man viel über sich selbst, könne Lösungsansätze anderer Teilnehmer ausprobieren und auf die eigene Situation übertragen. "Was mir gegeben wurde, das möchte ich anderen nun zurückgeben", sagt Martin.

Zehn Prozent der Jugendlichen im Alter von 16 bis 17 weisen einen gesundheitsgefährdenden Alkoholkonsum auf. Schätzungsweise 6,6 Millionen Kinder in Deutschland leben bei einem Elternteil mit riskantem Alkoholkonsum. Die Vererbbarkeit der Alkoholabhängigkeit liegt dabei bei etwa 50 Prozent. Das Blaue Kreuz München baut sein Netz an Präventionsangeboten aus. Vier Angehörigen- und vier Online-Gruppen wurden trotz der Corona-Pandemie in jüngster Zeit neu geschaffen.

Vor allem soll die persönliche Begegnung ermöglicht werden. In Präsenz sei es viel leichter, auf Belange der Teilnehmer einzugehen, sagt Norbert Gerstlacher. Online-Gruppen stellten zwar ein niederschwelliges Angebot dar, man könne sich dort aber auch deutlich einfacher zurücknehmen. Das direkte Kennenlernen baue Hemmschwellen ab und sei essentieller Teil der Beratung. Eine Pflicht zur Beteiligung besteht auch in Präsenz nicht. Martin berichtet von Teilnehmern, die wochenlang nur zugehört hätten. Eine vertrauensvolle Atmosphäre und die Schweigepflicht sind Voraussetzung für einen offenen Austausch. Einen festen Ablauf oder eine verpflichtende Vorstellungsrunde wie bei den Anonymen Alkoholikern gibt es nicht.

Jugendliche mit einem suchtkranken Elternteil sind besonders gefährdet. Sie laden unter Umständen keine Freunde mehr nach Hause ein oder müssen Aufgaben und Verantwortung in Bereichen übernehmen, die typischerweise in den Erwachsenen obliegen. Viele ahmen ihre Eltern nach und werden selbst süchtig. Das Blaue Kreuz versucht, dort anzusetzen. So wird der Umgang mit Konfliktsituationen trainiert. Es geht bei den Treffen um Gruppenzwang, den Umgang mit Werbung und Vorbildern. Man müsse die Eigenverantwortung und Individualität der Betroffenen fördern und die daraus entstehenden Möglichkeiten für den Einzelnen herausarbeiten, sagt Gerstlacher. "Eine Suchterkrankung ist gleichzeitig eine Gefühlserkrankung." Menschen, die parallel oder nach ihrer Therapie eine Selbsthilfegruppe besuchen, erleiden laut Statistik 80 Prozent weniger Rückfälle.

Gruppentreffen finden mittwochs, 18.30 Uhr, im Haarer Jugendkulturzentrum Route 66, Vockestraße 11, statt. Vor dem Besuch wird um Kontaktaufnahme gebeten unter Telefon 089/38 88 88-73, -74, 089/42 07 91 69 oder 0152/58 95 57 86.

© SZ vom 15.11.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: