Ratgeberliteratur:Mosaik zum Glück

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Nicht, dass Nina Martin jetzt stets auf der Sonnenseite spazieren würde, aber: "Wer erkennt, wie sterblich er ist, versteht, wie unglaublich lebendig er ist", schreibt sie und genießt ihr Dasein intensiver als früher. (Foto: Angelika Bardehle)

Die Unterhachinger Autorin Nina Martin ermutigt die Leser ihres bei Rowohlt erschienenen Buches, ihr Leben in kleinen Schritten zu verändern. Das Werk ist von ihren eigenen Erfahrungen mit einem lebensbedrohlichen Herzfehler geprägt

Von Udo Watter, Unterhaching

Zu den kleinen, großen Weisheiten der Welt gehört der Satz: "Philosophieren heißt sterben lernen." Das Problem dabei: Learning by doing ist so gut wie ausgeschlossen. Nina Martin allerdings ist dieser praxisnahen Erfahrung in gewisser Weise schon näher gekommen als die allermeisten Menschen. Im Alter von 26 Jahren hat sie eher zufällig erfahren, dass ihr Herz eine "tickende Zeitbombe ist, die einen jederzeit umbringen könnte". Oder weniger bildlich ausgedrückt: Bei einer medizinischen Untersuchung war herausgekommen, dass das, was sie lange für epileptische Anfälle gehalten hatte, in Wirklichkeit schwere Herz-Rhythmus-Störungen waren - und sie unwissentlich in diesem Zusammenhang bereits 25 lebensbedrohliche Situationen "durch unglaubliches Glück" überstanden hatte: Jedes Mal hatte ihr Herz bereits aufgehört, regelmäßig zu schlagen, und sie war bewusstlos geworden.

Aber das Herz hatte jedes Mal seinen Rhythmus wiedergefunden, und sie war wieder aufgewacht. Eine Erkenntnis, die einen grundlegend berührt. "Man ist danach nicht mehr ganz dieselbe", schreibt die in Unterhaching aufgewachsene Autorin in ihrem Buch "Plane nicht - lebe! Wie du ohne Masterplan glücklich werden kannst", das vor wenigen Tagen im Rowohlt-Taschenbuch-Verlag erschienen ist.

"Ohne meine Sterblichkeitserfahrung gäeb es keine Mosaik-Methode"

Darin stellt die 29-Jährige, ausgehend vom plötzlichen Bewusstwerden ihrer existenziellen Fragilität, eine Anleitung für ein Leben ohne linearen Lebensentwurf vor. Nina Martin, die Psychologie studiert hat und auch als Coach arbeitet, entwickelt dabei Gedanken zu einer flexiblen, aber keinesfalls planlosen Herangehensweise an ein erfüllendes, intensives Leben mittels einer bestimmten Methode, die auf kleinen Schritten aufbaut und zur Erkenntnis vom persönlichen Gestaltungsspielraum motiviert. "Ohne meine Sterblichkeitserfahrungen gäbe es keine Mosaik-Methode", schreibt sie in ihrem Buch, das sie als "Mischung aus Autobiografie und Ratgeber" charakterisiert.

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Die Mosaik-Methode. Bevor sie bei diesem Treffen im Landschaftspark Hachinger Tal näher darauf eingeht - Nina Martin, die inzwischen in Berlin lebt, ist gerade zu Besuch bei ihrer Mutter in Unterhaching - betont sie, dass sie keinesfalls die Phrasendrescherei und den Hang zu Kalendersprüchen, wie es bei anderen Coaches und in der Ratgeber-Branche ja nicht untypisch ist, pflege. "Ich möchte, dass es realistisch ist und im Alltag verankert." Auch wenn bei ihr die Erfahrung der Todesnähe eine Rolle spielte und zu dem aktuellen Buch geführt hat - inzwischen ist ein kleiner Defibrillator über ihrem Herzen eingepflanzt, der bei Anfällen einsetzt - betont sie, dass man natürlich nicht die dramatische Erfahrung der eigenen Endlichkeit brauche, um sein Leben intensiver zu gestalten. Das "amerikanische Narrativ", wie sie es nennt - jemand ändert sein als sinnarm empfundenes Leben komplett und findet spirituelle Erfüllung à la dem Selbstfindungsklassiker "Eat Pray Love" (verfilmt mit Julia Roberts) sei eher "nicht hilfreich". Normal gebe es kein kathartisches Erlebnis, nach dem man alles hinter sich lasse und völlig neu beginne. "Es gibt viele Leute, die diese Radikalität nicht haben."

Auch Nina Martin selbst hat sich nicht stante pede verändert - sie hat weiter für eine Organisationsberatung in Berlin gearbeitet, die sich auf die Bereiche Innovation und Transformation spezialisiert hat. Freilich - auch wenn die akute Lebensgefahr nun durch den Defibrillator gebannt war - hatten sich Fragen und Emotionen im Innern eingenistet, die sukzessive in neue Prioritäten mündeten. Die Frage "Wie will ich wirklich leben?" mag trivial anmuten, aber wer sie mit Tiefgang angeht, wird ja womöglich in neue Terrains des Daseins getrieben. Martin selbst bezeichnet sich als vom "Sicherheitsdenken" geprägt", sie ist durchaus einem konventionellen Lebensentwurf gefolgt, nachdem man schon lange vorher wissen müsste, was man später wollte und entsprechend danach handelt.

Brüche im Curriculum Vitae sind dabei eher nicht vorgesehen. Es soll linear nach oben gehen mit Karriere, Familie, Eigenheim und Rente. Mit am dämlichsten hierbei ist der für Bewerbungsgespräche typische Satz, den sie im Vorwort kritisch zitiert: "Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?" Wer in sich geht, könne den "Status-quo-Bias" (kognitive Verzerrung, die zu einer Bevorzugung des Status quo führt) überwinden, die eigene Gestaltungsfreiheit erfassen. "Wichtig ist, vom kognitiven Wissen zum emotionalen Begreifen zu gelangen", sagt sie. Martin selbst hat etwa nach ihrer Sterblichkeitserfahrung das Schreiben wieder entdeckt, eine alte Liebe, die sie zwischendurch aufgegeben hatte. Schon als 14-Jährige hat sie ein Fantasy-Buch veröffentlicht, über das damals die Lokalpresse berichtete (zudem hatte die Unterhachingerin, die Schülersprecherin am Lise-Meitner-Gymnasium war, auch ein Praktikum bei der Zeitung gemacht). Mit dem journalistischen Schreiben hat sie vor einigen Jahren wieder begonnen, unter anderem erschien ein Artikel im SZ-Magazin ("Ich - unsterblich?") . Das Thema des Artikels, der im Netz große Resonanz fand, hat sie danach ausgebaut und zu dem jetzt erschienenen Buch verarbeitet, das dann auch noch gleich der renommierte Rowohlt-Verlag publiziert hat.

Ihr Ansatz basiert auch auf modernen Innovationsmethoden wie Design Thinking

Die 29-Jährige entfaltet einerseits eine eher zart zurückhaltende Aura, vermittelt aber andererseits den Eindruck, dass sie es auch gut durchsetzen kann, wenn sie denn weiß, was sie will. Sie plädiert für einen zeitgemäßen Lebensansatz, den sie Mosaik-Methode nennt. Kurz gesagt geht es darum, flexiblere Lebenspläne in einer zunehmend vielfältigen Welt zu entwerfen, ohne deswegen alle Sicherheiten aufgeben zu müssen. Mit vielen kleinen Erfahrungsbausteinen gestaltet man das Mosaik des eigenen Lebens. Mal passt er nicht, mal ist er zu spitz, mal genau richtig. Der Ansatz basiert auf modernen Innovationsmethoden wie Design Thinking und agilen, nichtlineraren Methoden, die schnelle Verbesserungszyklen zum Ziel haben und mit starren Entwürfen zu brechen. Von allgemeineren Fragen geht sie später zu detaillierteren Aspekten über wie "Wen möchte ich in meinem Leben haben?" oder "Was sind die Werte, nach denen ich leben möchte?". Die Mosaik-Methode wird dabei als Lebenseinstellung wie auch konkretes Werkzeug behandelt - es gibt praktische Prüfungen ohne den Duktus theatralisch anmutender Maximen anderer Ratgeber-Bücher. "Das schrittweise Ausprobieren von Erfahrungen kann Türen öffnen, von deren Existenz man zuvor noch gar nichts wusste", schreibt sie.

Ihr Stil ist im Allgemeinen klar, ohne Schnörkel und immer wieder schimmert Humor durch. ",Ich habe jetzt so lange damit gelebt, da werden mich ein paar Tage mehr auch nicht umbringen'', hörte ich mich selbst zu Ben sagen, als wir längst wieder zu Hause waren", schreibt sie über die Situation nach der Diagnose. Ganz generell basiert Martins Methodik und mitunter auch ihr Vokabular auf ihren Erfahrungen in der Innovationsbranche und ihrer psychologischen Ausbildung. Sie spricht etwa von der Vuka-Welt - eine "volatile, ungewisse, komplexe und ambige (mehrdeutige) Welt", mit der man sich konfrontieren solle.

Auch wenn das Buch die Komplexität der Welt in den Blick nimmt und die sich verändernden Gesellschaften und Ansprüche, könnte man dennoch kritisch anmerken, dass die Art und Weise der Problemstellung natürlich sehr auf First-World-Menschen zugeschnitten ist und darin vor allem auf ein Milieu, das aus eher behüteten, bürgerlich-akademischen Häusern kommt. "Sicherheitsdenken", "Masterplan", "Lebensentwurf" sind Begriffe, die Menschen aus ärmeren Weltgegenden oder auch aus sozial weniger beglückten Schichten tendenziell in der Praxis fremd sind - hier ist der Gestaltungsspielraum, dessen man sich bewusst werden müsste, ein ganz anderer und oft viel eingeschränkterer.

Auch wer Formeln und methodisch strukturierten Ratschlägen zum besseren Leben skeptisch gegenüber steht, wird das Buch wohl erst mal nicht zur Hand nehmen. Gleichwohl ist es voller guter Gedankenanstöße, kleiner Weisheiten, atmet mitunter Humor und eine Liebe zum Leben. "Wer erkennt, wie sterblich er ist, versteht, wie unglaublich lebendig er ist", schreibt Nina Martin.

© SZ vom 27.05.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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