Nationalsozialismus in Grünwald:Verdrängtes Kapitel der Geschichte

Lesezeit: 4 min

Exkursion Ortsgeschichte. Hella Neusiedl-Hub am Dr. Max-Gedenkstein. (Foto: Claus Schunk)

Hella Neusiedl-Hub hat viele Informationen über die Zeit zwischen 1933 und 1945 in Grünwald zusammengetragen und gibt sie bei Führungen der Volkshochschule weiter. Sie erinnert auch an die Schicksale jüdischer Grünwalder.

Von Claudia Wessel

Am Ende ist einem richtig übel. Nicht weil es an dem zunächst regnerischen Tag doch plötzlich warm wird und man auch mal bergauf radeln muss. Viel eher deshalb, weil die Grausamkeit des einstigen Lebens in Grünwald Stück für Stück vor dem eigenen Auge aufersteht, von Station zu Station, und immer weniger verdrängt werden kann, dass all das tatsächlich geschehen ist. Angesichts der Geschichten, die Hella Neusiedl-Hub bei der Radtour "Auf den Spuren der Grünwalder Ortsgeschichte zwischen 1933 und 1945" erzählt, schmilzt der Abstand zum Damals mehr und mehr dahin.

Stattdessen rückt die finstere Stimmung im Ort während des Nationalsozialismus immer näher, bis die Teilnehmer regelrecht zu spüren glauben, wie der Reichsschatzmeister der NSDAP, Franz Xaver Schwarz, hier im Mittelbau des heutigen Schwesternheims ein- und ausgegangen ist. Wie sich drei jüdische Schwestern im Oktober 1941, als sie aus ihrem Gartenhaus an der Klingerstraße 2 ins Barackenlager umsiedeln sollten, die Pulsadern aufschnitten. Wie sich die beiden Grünwalder Bürger Thomas Max und Fritz Ehrlicher in den letzten Kriegstagen vor dem Rathaus in der damaligen Horst-Wessel-Straße bewaffnet begegneten und Max kurz darauf stundenlang verletzt auf der Straße lag, bis jede Hilfe zu spät kam. So jedenfalls haben es alte Grünwalder erzählt.

Hella Neusiedl-Hub ist Diplom-Kauffrau und arbeitet als Bankerin. Doch sie ist in Grünwald aufgewachsen und fragte sich irgendwann, warum sie in der Schule nichts über die Zeit des Nationalsozialismus gehört hatte. "Unser Geschichtsunterricht endete 1918", berichtet sie am Rathausbrunnen, auf dem einstigen Adolf-Hitler-Platz, den versammelten 15 Radlern, bevor die Rundfahrt los geht. Als sie angefangen habe, sich nach dieser Zeit zu erkundigen, habe man ihr gesagt: "Hier in Grünwald hat's das alles nicht gegeben."

1 / 3
(Foto: Claus Schunk)

Im ehemaligen Bunker des Reichsschatzmeisters der NSDAP, Franz Xaver Schwarz, befindet sich heute...

2 / 3
(Foto: Claus Schunk)

...die zweite Küche des Schwesternwohnheims.

3 / 3
(Foto: Claus Schunk)

Auf ihrer Tour kommt Hella Neusiedl-Hub am Dr. Max Gedenkstein vorbei.

1933 ga es in Grünwald 13 jüdische Mitbürger

Ihre Recherchen und Zeitzeugenbefragungen bewiesen das Gegenteil. Seit drei Jahren bietet die Schwester von Bürgermeister Jan Neusiedl ihre lehrreichen Geschichtsführungen mehrmals im Jahr an. Veranstalter ist die VHS. Die Informationen dafür hat Neusiedl-Hub aus Gemeinde-, Kirchen- und Staatsarchiv. Dort fand sie etwa auch Ausgaben des seit 1930 bestehenden Isarboten, dem Vorgänger des heutigen Isar Anzeigers, denen man viel entnehmen kann. Auch von alten Grünwaldern Erzähltes fließt in die Führungen ein.

1933 hatte Grünwald laut Neusiedl-Hub 1477 Einwohner. Man kann sich somit vorstellen, dass sich in dem Ort alle kannten. Wie wenig das den 13 jüdischen Mitbürgern genützt hat, zeigen einige Beispiele auf der Rundfahrt. Etwa dem jüdischen Arzt Kurt Rosenmeyer, der gegenüber dem heutigen Rathaus wohnte. Er konnte noch rechtzeitig in die USA auswandern, musste aber seine Frau Anna zurücklassen. Als er sie nachholen wollte, weigerte sie sich. Sie war "Arierin", blieb in Grünwald und ließ sich scheiden. Rosenmeyer brachte sich daraufhin um. Seine Asche wurde 1951 zurück nach Grünwald überführt, Anna und er sind im selben Grab wieder vereint.

1 / 2
(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Der heutige Mittelbau des Schwesternheims war das Wohnhaus des Reichsschatzmeisters der NSDAP, Franx Xaver Schwarz,...

2 / 2
(Foto: Claus Schunk)

...im Bild ist er mit Brille mit Heinrich Himmler, 2.v.l, zu sehen.

Oder die Schwestern Hirsch, die vorher in der Münchner Prinzregentenstraße gelebt hatten. Durch die Zahlung der "Judenvermögenssteuer" wurden sie immer ärmer. Neusiedl-Hub hat die Kopie eines Formulars dabei, auf dem Irene Hirsch sorgfältig ausgefüllt hat, wie viel Geld sie am Ende hatte: nämlich nichts. Ein Schrägstrich steht in der entsprechenden Spalte. Wegen dieser Verarmung waren die Schwestern schon in ihr Grünwalder Gartenhaus gezogen. Auch an Irene Hirsch erinnerte sich ein Grünwalder Bürger. Er erzählte Neusiedl-Hub, dass die damals schon alte Frau immer einen Fuchsmantel trug und versuchte, den Kragen so gut wie möglich über den Judenstern zu schieben. Als die Schwestern erfuhren, dass sie auch aus dem Gartenhaus verschwinden sollten, versuchten sie, sich umzubringen.

Doch ein Gemeindemitarbeiter fand sie noch lebend und ließ sie in ein Münchner Krankenhaus bringen. Eine der Schwestern starb dort. Die anderen beiden wurden gesund gepflegt und am 4. April 1942 ins Vernichtungslager abtransportiert. Auch der Juwelier Eduard Schöpflich, dessen Schmuckstücke heute noch im Handel sind, wie Neusiedl-Hub herausgefunden hat, wurde Opfer der Nazis. Die Familie mit drei Kindern lebte in der Wendelsteinstraße 2. Die Kinder waren alle sehr aktiv in Grünwalder Vereinen, trägt Neusiedl-Hub vor dem Grundstück vor, das leer ist, weil das Haus abgerissen wurde.

Die Flucht gelang denen, die Geld hatten

Eduard Schöpflich wurde 1933 krank. Neusiedl-Hub erzählt, er sei anfangs noch gut gepflegt worden. Doch als er Ende 1933 starb und in München auf dem jüdischen Friedhof beerdigt wurde, hätten sich kaum noch Freunde und Bekannte dorthin getraut. Die Kinder konnten alle noch rechtzeitig auswandern, klagten später auf Wiedergutmachung wie viele andere auch. Neusiedl-Hub betont, dass die Flucht eher denen gelang, die Geld hatten. Wer aber kein Geld mehr für die "Reichsfluchtsteuer" hatte wie etwa die Schwestern Hirsch - an die heute in Grünwald die Geschwister-Hirsch-Straße erinnert - der konnte dem Tod nicht entkommen.

Beim Hören all dieser Geschichten sieht man das Foto vor sich, das Neusiedl-Hub vor dem Schwesternheim gezeigt hatte. Darauf zu sehen ist eine Gruppe von offensichtlich sehr guten Freunden: Von links Eva Braun, Franz Xaver Schwarz, Adolf Hitler mit betont bösem Gesichtsausdruck - und Frau Schwarz. Sie alle haken sich ein, als wollten sie gleich losschunkeln.

Franz Schwarz war von 1925 bis zum Kriegsende Herr über die NSDAP-Finanzen und hatte auch in Grünwald große Macht. "Arier" durften bei Bombenangriffen in seinen Bunker - in dem heute die zweite Küche des Schwesternwohnheims untergebracht ist. Er tat auch anderen gerne einen Gefallen, etwa besorgte er dem Ortsgruppenführer der Partei, Kurt Müller, ein Fahrrad, obwohl dieser nicht die nötigen 22 Eisenmarken besaß, wie Neusiedl-Hub erzählt. Schwarz war bis zuletzt ein überzeugter Nazi: Als er merkte, dass es zu Ende ging mit der Herrschaft, ließ er die Parteikasse und alle Buchhaltungsunterlagen verschwinden. Geld und Unterlagen sind bis heute nicht wieder aufgetaucht. Den Juden im Ort tat er keine Gefallen. Sie überließ er ihrem Schicksal. Und schaute lächelnd in die Kamera.

Die nächste historische Führung von Hella Neusiedl-Hub für die Grünwalder VHS findet am 6. Oktober in der Bavaria Filmstadt aus Anlass 100 Jahre Bavaria statt. Weitere Informationen bei der VHS.

© SZ vom 01.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: