Menschen mit Behinderung:Von Handicap zu Handicap beraten

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Alfred Lindner und Sylvia Niemann setzen Inklusion in ihrem Betrieb um. In der Rolli-World ist alles auf Menschen mit Handicap ausgerichtet. (Foto: Claus Schunk)

Alfred Lindner betreibt die Firma Rolli-World in Kirchheim und hat 45 Prozent Mitarbeiter mit Behinderungen. In dem Betrieb wird ein Miteinander gelebt. Die Agentur für Arbeit weist auf das große Fachkräftepotenzial dieser Gruppe der Jobsuchenden hin.

Von Gudrun Passarge, Kirchheim

Eine tiefergelegte Küche, Fenstergriffe, die unten angebracht sind, ein Aufzug, rollstuhlgerechte Toiletten genauso wie ein "Fußgänger-WC", die Rolli-World in Kirchheim ist ein Vorzeigebetrieb. Auch in Augen der Münchner Agentur für Arbeit. Denn der Anteil der Mitarbeiter mit Behinderungen beträgt in dem 20-Mann-Unternehmen 45 Prozent. Der Chef, Alfred Lindner, sitzt selbst nach einem Unfall im Rollstuhl und auch die Verwaltungsleiterin Sylvia Niemann ist schwerbehindert. "Die Akzeptanz und der Umgang miteinander ist ganz normal", sagt Niemann, "die Frage der Inklusion stellt sich bei uns gar nicht mehr".

Die Agentur für Arbeit München nutzte den anstehenden internationalen Tag der Menschen mit Behinderung, um in den Sanitätsfachhandel nach Kirchheim einzuladen. Der Leiter des Münchner Arbeitsamts, Wilfried Hüntelmann, betont, Behinderung solle nicht als Hürde gesehen werden, vielmehr könnten "Menschen mit und ohne gesundheitliche Einschränkungen wunderbar zusammenarbeiten", das gelte es positiv ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Hüntelmann lobt die Motivation, Loyalität, vor allem aber die Qualifikation vieler Menschen mit Behinderung. "Wir sehen hier ein klares Fachkräftepotenzial."

Robert Staudenmeir, zuständig für die Vermittlung von Menschen mit Beeinträchtigungen in der Behörde bestätigt die Aussage des Leiters, dass Betriebe, die sich offen zeigten, gute Erfahrungen mit den neuen Mitarbeitern machten. Dabei sei ihm wichtig, Fachkräfte in Jobs zu bringen: "Wir vermitteln über Fachlichkeit, über Berufserfahrung und Engagement und nicht über die Defizite." Mit anderen Worten: "Wir vermitteln den IT-Spezialisten, der eine Hörbehinderung hat, nicht den Hörbehinderten, der IT-Spezialist ist."

Zur Qualifikation von Menschen mit Behinderung muss er Sylvia Niemann nichts erzählen. Der Betrieb bildet auch junge Menschen mit Behinderung aus, er bietet Berufseinsteigern Jobs und hat viele Mitarbeiter, die schon lange dabei sind. Sie bräuchten Angestellte, die sich mit der Materie auskennen, "aber in erster Linie brauchen wir einen Mechaniker, Qualifikation ist wichtig". Sitzt dieser Mechaniker selbst im Rollstuhl und weiß, wovon der Kunde redet, macht das vieles einfacher. "Von Handicap zu Handicap beraten" nennt das Alfred Lindner.

Seine Rolli-World bietet gezielte Beratung und Lösungen für jeden individuellen Fall an. Ganz gleich ob für Olympiateilnehmer bei den Paralympics, Weltmeister oder für den Nachbarn von nebenan. Menschen mit Behinderung zu beschäftigen ist dem Chef von Anfang an ein Anliegen gewesen, wie er sagt. Bei gleicher Eignung werden Schwerbehinderte sogar bevorzugt bei der Einstellung. Oder es gibt gar keine offizielle Stellenausschreibung.

Es ist wichtig, dass Menschen ihre Mobilität erhalten

Sebastian Friedl ist so ein Fall. Der junge Mann sitzt nach einer misslungenen Operation seit 2011 im Rollstuhl. Er war Kunde in der Rolli-World. Hier ließ er sich passgenau die Einzelteile zusammenstellen, um ein Gefährt zu bekommen, mit dem er gut umgehen kann. Der Chef legt Wert darauf, dass Menschen mit Beeinträchtigung ihre Mobilität behalten. "Nicht aufgeben" rät er Betroffenen, denn die Selbständigkeit sei wichtig, sagt der Mann, der selbst viel Erfahrung mit Rollstühlen im Rollstuhl-Basketball und Rugby gesammelt hat. Der Chef fand Gefallen an dem jungen Mann und stellte im Gespräch fest, dass Friedl auf Arbeitssuche ist. Lindner entschied aus dem Bauch heraus. Er sprach mit Niemann und sagte ihr, "ich glaub', er wäre gut und würde zu uns passen". Friedl, gelernter Kaufmann für Gesundheitswesen, machte ein Praktikum und blieb als fester Halbtagsangestellter.

Gute Erfahrungen mit inhabergeführten Betrieben

Robert Staudenmeir sagt, die Arbeitsagentur habe gute Erfahrungen mit kleineren inhabergeführten Betrieben gemacht. Er betont noch einmal, das Arbeitsamt stehe Arbeitgebern mit Rat und Tat zur Seite. Er bedauert typische Vorbehalte mancher Chefs, die oft unhaltbar seien. Wie der Glaube, Menschen mit Behinderung seien nicht kündbar. In der Probezeit gälten die gleichen Bedingungen wie für alle Arbeitnehmer, danach müsse das Inklusionsamt der Kündigung zustimmen. Dort werde geprüft, ob dem Angestellten wegen seiner Behinderung gekündigt wurde oder ob andere Gründe vorliegen, zum Beispiel eine Insolvenz.

In 80 Prozent der Fälle würde das Amt der Entlassung zustimmen, sagt Staudenmeir. Ein anderes Vorurteil lautet, Menschen mit Behinderung seien dauernd krank. Das stimme ebenso wenig wie die Befürchtung, diese Mitarbeiter seien weniger leistungsfähig. "Probieren Sie es doch einfach mal" rät der Teamleiter den Unternehmern. Müsse dann noch der Arbeitsbereich barrierefrei gestaltet werden, dafür gebe es Zuschüsse vom Amt, sagt Staudenmeir. Rollstuhlfahrer machten übrigens nur etwa zehn Prozent seiner Kunden aus, die anderen Behinderungen seien eher nicht zu sehen. Darunter fällt der Diabetiker genauso wie jemand mit psychischen Erkrankungen oder schlechtem Sehvermögen. Die Rolli-World sucht aktuell noch einen Mechaniker.

© SZ vom 03.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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