Kreis und quer:Geliebte Nachbarn

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Am M-Kennzeichen des Autos entzündet sich im Oberland der Zorn über die "Stodara". Aber wo steht zwischen Stadt und Land der Landkreis-Bürger?

Von Udo Watter

Mag sein, dass es auch in diesen Zeiten Augenblicke gibt, die zum Verweilen einladen. Wer beobachtet, wie der Sonnenschein die Schneeflocken von den Ästen haucht und diese im zartesten Pianissimo auf den Boden rieseln, der wird sich vielleicht wünschen, dass die Zeit still steht. Ansonsten dürstet unser Gehirn gerade jetzt nach Veränderung, es gibt zu wenig Ups im Lockdown. Die Luftveränderung wird zur Obsession, weil sie nur noch schwer realisierbar, nicht erwünscht oder gar verboten ist. Das Unterwegssein gibt nicht nur neue Impulse, sondern schärft auch die Identität. Die eigene Herkunft geht auf jeder Reise mit, mitunter auch modisch.

Das touristische Stigma unserer Tage ist freilich nicht die Sandalen-Socken-Kombination an der Adria, sondern das "M" im Oberland. Das Autokennzeichen, das die städtischen Ausflügler entlarvt, die trotz Corona-Einschränkungen derzeit die Berge heimsuchen. Seit Wochen wird schon darüber berichtet, wie es bei den Menschen im Oberland Aggressionen auslöst (manifestiert in einem Schild mit Stinkefinger unter M-Kennzeichen) und sich ein veritabler Stadt-Land-Konflikt entfaltet. Für Bewohner des Landkreises München stellt sich mal wieder die Frage, wohin sie eigentlich gehören. Zweifellos dekoriert auch ein "M" ihr Autokennzeichen. Sind sie also in den Augen der Gebirgler die derzeit ungeliebten "Stodara"? Oder positiver gesagt: Vereint der Landkreis das Beste von beiden Welten, urban und ländlich zugleich. Oder ist er eine identitätsverwirrende Melange? Manche Künstler und Firmen aus dem Umland firmieren gerne als Münchner. Wenn Schlier- und Tegernseer über die Stadt schimpfen, wo ist dann der Garchinger beim "Wir gegen die"? Falls die Sieben-Tage-Inzidenz weiter so steigt, haben sich die Exkursionen aus dem Landkreis zum Alpenrand ob der 15-Kilometer-Regel zwar eh (offiziell) erledigt. Weitere Konflikte zwischen den oberbayerischen Nachbarn blieben unausgefochten, der Weltfriede im Oberland rückte näher. Die Frage "Wer bin ich, und wenn ja wie viele?" (Weltbürger, Europäer, Deutscher, Bayer, Oberbayer, Münchner, Grünwalder, Geiselgasteiger) bleibt indes offen.

Offen für Neues war diese Woche auch die Feuerwehr Pullach. Sie drang in Gebiete vor, in denen sie de facto nicht zu Hause ist und wurde dafür auch noch gelobt: Zu einem Einsatz an der Heilmannstraße gerufen, zeigte sich, dass an der vermeintlichen Alarmadresse alles ruhig war. Die Vermutung, das es sich um die namensgleiche Straße in München handelte, war richtig: Um den Zeitvorteil der Pullacher Kräfte zu nutzen, wurden sie zur Adresse im Stadtgebiet in Thalkirchen beordert und retteten einen Mann aus einer verrauchten Wohnung. Die Feuerwehr München bedankte sich und lobte die "professionelle, grenzüberschreitende Zusammenarbeit". Quasi nach dem Motto "Liebe deine Nachbarn wie dich selbst".

© SZ vom 09.01.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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