Kreis und quer:Die Weite ganz nah

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Eskapismus in Corona-Zeiten: Das Kopfkino trägt uns in die Ferne, dank Bavaria One idealerweise bis zum Mond

Kolumne Von Udo Watter

Sein heißt wahrgenommen werden, und die Aufmerksamkeit anderer ist die größte Droge überhaupt - ob im echten oder digitalen Leben. Das gilt auch für die meisten Künstler, aber diese brauchen ihre Follower nicht primär im Netz, sondern vor der Bühne, in der Galerie, auf Lesungen. Der Applaus ist das Brot des Künstlers. Ohne Publikum, ohne unmittelbaren Austausch, ohne die Möglichkeit eines Auftritts verarmt auf Dauer vielleicht die kreative Entfaltung, ganz sicher aber der Künstler.

Im Moment aber herrscht Ausnahmezustand, das Bonmot "Es gibt Leute, die zum Husten ins Konzert gehen", fände niemand mehr lustig. Nun gilt es jenseits des gegenwärtigen Kampfes um wirtschaftliches Überleben, Perspektiven zu schaffen. Kulturmacher im Landkreis versuchen, komplette Absagen so gut wie möglich zu verhindern, Events zu verschieben oder mit Streaming abzufedern. Auffällig ist auch, wie sehr Menschen in der Kulturwelt derzeit einfach nur um Kontakte bemüht sind, sich der Solidarität der anderen und auch der Berechtigung ihres kreativen Dasein versichern wollen. Wie sagt Hannah Stegmayer, Leiterin des Pullacher Bürgerhauses: "Kunst und Kultur sind Lebensmittel." Ja, Lebenslust und Zuversicht zu geben, sogar ansteckende, das geht mit Kreativität besonders gut. Das gemeinsame Singen von den Balkonen in Italien und auch in Deutschland, Händewasch-Hymnen in Afrika oder Aktionen wie "Tree of Hope meets Art of hope" in Unterföhring gehören dazu, wie auch virtuelle Ausstellungen mit Kirchheimer oder Ottobrunner Hintergrund. Dass man die Pandemie mit der Panflöte bezirzen kann, ist allerdings nur ein Gerücht. Die Aktion "Baum der Hoffnung" in Unterföhring will Groß und Klein animieren, schöpferische Werke am Zaun des Zindlerhauses aufzuhängen. Ein Zeichen der Hoffnung und ein Ausblick in eine schöne Zukunft für später - in der sich das Fernweh nach Nähe wieder erfüllen könnte: Eine Finissage der kreativen Zaungäste ist geplant.

Ja, das Wegdenken in die Zukunft ist eine Form, sich über die Gegenwart hinweg zu trösten. Auch der Eskapismus generell erfährt gerade eine Aufwertung. Er wird weniger als larmoyante Weltflucht wahrgenommen, sondern eher als Entlastung bringende Schönheit. Für die meisten gibt es digitale oder filmische Exit-Optionen, für andere auch das Kopfkino. Jenseits davon sind wir eingeschränkt, das Weite in der Weite suchen, die Realität bietet keine Möglichkeit zum Reisen. Selbst naheliegende Attraktionen sind kaum drin: weder eine Exkursion zum Deininger Weiher, zum Schleißheimer Schlosspark oder zur St. Corona-Kapelle nach Arget. So richtig sicher ist man aber ohnehin nirgendwo auf der Welt. Hilft da das Kopfkino? Man könnte ja vielleicht mit der Bavaria One, entwickelt von Taufkirchner und Ottobrunner Airbus-Genies, zum Mond fliegen. Wenn dann unter den Astronauten einer aber verdächtige Geräusche macht, könnte es schnell heißen: Husten, wir haben ein Problem.

© SZ vom 04.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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