Interview:Legendäre Pferdehirten

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Anikó Halmai in der Zwiesprache mit ihrem Pferd. (Foto: Attila Magyar)

Anikó Halmai lebt auf einem Reiterhof in Páty. Sie beschreibt, warum die Tiere so wichtig für die ungarische Kultur sind

interview Von Verena Fücker

Pferde und Ungarn - Das gehört einfach zusammen. Das dachte sich auch Anikó Halmai, die 1970 in Ost-Berlin geboren wurde. Sie hat 2008 gemeinsam mit ihrem Mann das Reiterressort Bellandor in Páty gegründet und sorgt damit dafür, dass Reiten in Ungarn seine Renaissance erfährt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Reitsport in Ungarn nämlich immer mehr vernachlässigt, bis er schließlich keine Rolle mehr spielte. Erst seit deren Ende vor 25 Jahren geht es mit dem Reiten wieder Berg auf, auch wenn sich die Bedeutung der Pferde verändert hat. Waren die Tiere in Ungarn früher vor allem als Jagdpartner wichtig, helfen sie dem Reiter heute vor allem dabei, sich selbst zu erfahren, erzählt die studierte Germanistin Anikó Halmai im Interview.

SZ: Warum gilt Ungarn als das "Land der Pferde"?

Anikó Halmai: Die ungarische Kultur ist schon seit Jahrhunderten untrennbar mit dem Pferd verbunden. Ungarn wurde im Jahr 896 von den Magyaren besiedelt. Das ist ein nomadisches Reitervolk aus der asiatischen Steppe. Das Pferd war seitdem ein Partner für die hier lebenden Menschen. Pferde garantierten ihr Überleben und Fortkommen in der Steppe bei der Eroberung neuer Länder. Die Kunst des Bogenschießens wurde von den Magyaren ohnegleichen perfektioniert und war eng an das Pferd als Partner gebunden. Diese Pferde waren klein, schnell und robust. Auch in späteren Jahrhunderten spielte im Karpatenbecken die Pferdehaltung eine wichtige Rolle. Die Bedeutung der Reitkunst im ungarischen Lebensalltag dauerte mehr oder weniger bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts an und war für sämtliche gesellschaftlichen Schichten und Klassen wichtig. Je nach Schicht haben sich dann die unterschiedlichen Nutzweisen herausgebildet.

Wer in Deutschland an Ungarn und Pferde denkt, der hat zwangsläufig die wagemutigen Pferdehirten, die Csikós aus der Puszta, im Kopf. Ist das heute nur noch ein Klischee?

Dem ungarischen Pferdehirten kommt in der Tat eine bedeutende Rolle bei der Bewahrung der ungarischen Kultur zu. Die Geschichte der Pferdehirten ist die Geschichte Ungarns selbst. Durch die ungarische Landnahme entwickelte sich schnell eine landesweite Pferdezucht. Viele Pferdezüchter ließen sich in der Puszta, der ungarische Tiefebene, nieder, da die Bedingungen ideal für die Viehhaltungen war. Der ungarische Pferdehirte war nicht nur für das Wohlergehen der Pferde verantwortlich, sondern hatte auch junge Fohlen zu beschützen, zu verpflegen und auszubilden. Der gesellschaftliche Status eines Pferdehirten war enorm hoch. Als der internationale Handel ausgebaut wurde, waren ungarische Pferde in ganz Europa geschätzt. Mit der Revolutionierung der Pferdezucht ging die Tradition des Csikós mit dem 20. Jahrhundert langsam zu Ende. Damit verlor aber auch ein fast 1000-jähriger Beruf seine eigentliche Bedeutung. Der traditionelle Csikós kommt heute die wichtige Rolle zu, das Erbe dieser Pferdehirten-Tradition weiter zu tragen und zum Kulturerhalt der Ungarn beizutragen. Die vielen Fertigkeiten, die Tierliebe zum Pferd und die besondere Kleidung haben den Pferdehirten zu einer Legende gemacht. Auch heute noch empfehle ich den Besuch der Puszta als ein Ziel für den Urlaub in Ungarn. Die Programme bieten weit Anspruchsvolleres als eine internationale Pferdeshow in den großen Städten Westeuropas.

Wie wichtig sind Pferde heute für Páty? Immerhin ist die Gemeinde mit rund 7000 Einwohnern relativ klein, hat aber dafür drei Reiterhöfe.

Die Reiterhöfe sind aus Páty nicht wegzudenken. Gäbe es sie nicht, würde das sicher eine große Lücke im Freizeitangebot für die Gemeinde darstellen.

Alle zwei Jahre sind auch Kinder einer Ferienfreizeit aus Kirchheim bei Ihnen zu Besuch. Das ist fester Bestandteil im Programm. Wie kam es dazu?

Meine Familie und ich sprechen Deutsch. Der Gedanke ist naheliegend, dass sich die Gemeinde seit Jahren an uns wendet, wenn es darum geht, das Ferienprogramm für die deutschen Austauschschüler mit zu organisieren. Kinder sind überall. Kinder mit ihren kleinen und großen Sorgen, Ängsten und auch Träumen und Wünschen. Mit Pferden kann man nonverbal kommunizieren und auch Brücken zwischen den deutschen und ungarischen Schülern schaffen. Ich schaffe gerne Brücken, lasse die Kinder auch kurzzeitig ihren Kummer vergessen und stärke sie in ihrer Persönlichkeit. Die Welt des "Sich-Selbst-Erfahrens" und der Selbstreflektion, der so authentisch nur bei Pferden wiedergegeben wird, ist immer wieder für unsere Besucher eine unvergessliche Erfahrung, die gerne nach Wiederholung im kommenden Jahr ruft.

© SZ vom 18.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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