Kurzkritik:Schmerz im Schmelz

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Semyon Bychkovs Mahler mit den Philharmonikern

Von Klaus P. Richter, München

Vielleicht waren es die Schatten des Jahres 1907, die in Gustav Mahlers neunter Sinfonie noch nachtönten: der tragische Tod seiner kleinen Tochter Maria und die Diagnose eines lädierten Herzens. Dazu der Abschied von Wien in die Neue Welt. Jedenfalls könnten die ersten drei Sätze mit ihrer partikelhaften Struktur zwischen Stocken und Auflösung, ihren aphoristischen Klan-Chiffren und ihrer bizarren Instrumentation solche Deutung leicht beanspruchen. Deshalb hat man diesem Werk, wie Bruno Walter, "Abschied" und sogar, wie Alban Berg, "Todesahnung" attestiert. Dabei stand Mahler mit seiner Ehekrise noch weiteres Übel bevor.

Semyon Bychkov, Gastdirigent bei den Münchner Philharmonikern, vertieft sich mit Akribie in dieses dissoziative Klangpatchwork. Er betont die Physiognomie des Gestischen mit plastischer Deutlichkeit, forciert aber nichts. Damit macht er in der Philharmonie das, was Mahler vielleicht im gespenstischen Krisenmodus formulierte, zum hyperexpressiven Vokabular der Moderne. Das zeigt sich schon in der überlangen Durchführung des ersten Satzes mit ihrem Kontrastrelief zwischen Pianissimo-Lyrik und dreifachem Forte "mit höchster Gewalt" und in der Reprise mit dem kammermusikalischen "Misterioso". Auch im zweiten Satz übertreibt Bychkov die derbe Rhythmik der Tanztypen nicht, er zielt eher auf die Moll-Episode des Piano-Schlusses. Mitten durch die bizarr instrumentierten Fugati der Rondo-Burleske schweben feierlich eine ätherische D-Dur-Episode und Harfenidyllen. Es ist wie immer bei Gustav Mahler: Nachdem er sich an den grellen Dissonanzen des Weltgetümmels abgearbeitet hat, zieht er im Finalsatz ein Fazit - die Auflösung des Disparaten in eine Erlösungshoffnung.

Die Münchner Philharmoniker, die Großartiges mit der Bewältigung des komplexen Werks geleistet hatten, zelebrieren dort mit Bychkov den schmerzlichen Schmelz des typischen Mahler- Idioms und ein ersterbendes Pianissimo der Koda.

© SZ vom 24.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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