Kurzkritik:Mit Stilgefühl

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Das Rundfunkorchester feiert Lehars 150. Geburtstag nach

Von MICHAEL STALLKNECHT, München

In Amerika war bekanntlich schon immer alles größer. Auch der "Merry-Widow-Hat", für den der gewaltige US-Erfolg von Franz Lehárs "Die lustige Witwe" Pate stand: wagenradgroße Damenhüte, die "schon damals für den nötigen Sicherheitsabstand sorgten", wie der Schauspieler Johannes Silberschneider im Prinzregententheater sagt. Die bezeichnende Anekdote hat ihm der Operettenexperte Stefan Frey in den Mund gelegt, der in diesem Jahr bereits eine brillante Biografie über den "letzten Operettenkönig" vorgelegt hat - zu Lehárs 150. Geburtstag im April, den das Münchner Rundfunkorchester nun mit einigem Sicherheitsabstand nachfeiern konnte.

Dabei sorgt Freys Programmauswahl auch dafür, dass man hier allerhand nie Gehörtes kennenlernen kann wie Nummern aus "Mitislaw der Moderne", in dem Lehár die eigene "Lustige Witwe" parodierte, aus der Kinderoperette "Peter und Paul reisen ins Schlaraffenland" oder seiner einzigen italienischen Operette "La danza delle libullele". Die Sicherheitsabstände zwischen den Orchestermusikern lassen manche davon ins Wackeln geraten, was auch Ernst Theis mit einem klareren, bisweilen einfach größeren Dirigat hätte verhindern können.

Dafür bringt der Dirigent immerhin das Stilgefühl für das heikle Genre mit, ebenso wie die Sänger, was in der Gegenwart alles andere als selbstverständlich ist. Die Sopranistin Natalie Karl und der Tenor Matthias Klink verfallen auch bei bekannten Nummern wie "Meine Lippen, sie küssen so heiß" oder "Dein ist mein ganzes Herz" nicht ins opernhafte Schmettern, sondern balancieren sie mit nuancierter Textdeutung perfekt auf des Operettenmessers Schneide zwischen Sentimentalität und Ironie. Zumal Klink färbt dabei bis in einzelne Wörter hinein so selbstbewusst persönlich, wie das auch die Stars der goldenen Ära taten. Nachdem er mit Natalie Karl verheiratet ist, dürfen sie den Walzer aus der "Lustigen Witwe" sogar ganz ohne Abstand tanzen.

© SZ vom 23.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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