Kulturgeschichte:Sehnsüchte der Siechen

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Eine Ausstellung des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg über den Lungenkurort Davos widmet sich dem Thema Krankheit

Von Sabine Reithmaier

Tod, Verzweiflung, Lebenslust, Fernweh - all dies und damit die gesamte Davoser Welt hat der tuberkulosekranke Maler Philipp Bauknecht 1917 in einem Holzschnitt festgehalten. Den Priester, der die Hand eines Sterbenden hält, während im Stockwerk darüber ausgelassen Paare tanzen, unberührt davon, dass noch eine Etage höher ein Verzweifelter gerade mit einem Strick sein Leben beendet und in der Dachkammer ein anderer mit dem Teleskop den Sternenhimmel beobachtet. Mit "Hochsaison in Davos" hat Bauknecht einen harten Kommentar zum Treiben im "Weltkurort" geliefert. Und damit auch eine Steilvorlage für Daniel Hess, den Leiter des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg.

Kein Ort eigne sich besser, um die Sehnsüchte, Utopien, Ängste und Bedrohungen Europas im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert darzustellen als der europäische Lungenkurort, sagt er. Der Ort liefert für ihn auch den Beweis, dass die Auseinandersetzung mit Krisen der Motor sei, der die Kultur speist. "Ohne Kultur werden wir mit der Krise nicht fertig." Daher hat sein Haus in Kooperation mit dem Kirchner Museum den geglückten Versuch unternommen, die verschiedenen Facetten der Davoser Kulturgeschichte zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Erzählt wird die Geschichte mit einer Fülle von emotional aufgeladenen Objekten. Nicht nur mit Gemälden und Grafiken Bauknechts und Ernst Ludwig Kirchners, nicht nur mit den tollen, frühen Werbeplakaten und Postkarten, nicht nur mit Zitaten aus Thomas Manns "Der Zauberberg", sondern auch mit Sportpokalen, Schlitten, Ruheliegen, Skalpellen, Kirchners Grammophon, Christian Morgensterns Zwicker und mit von einem Bühnenmaler an die Wände gezauberten Berggipfeln. Sogar die Röntgenbilder in Brusttaschenformat sind da, eine wichtige Mitgliedskarte in der Welt der Kranken. Clawdia Chauchat beglückt den Zauberberg-Helden Hans Castorp mit so ein Diapositiv. Fast verwirrend zu entdecken, dass es sie wirklich gegeben hat. "Unsere Vorstellung von Europa geht eben nahtlos von realen zu fiktiven Personen über", sagt Hess. Und bedauert, dass er die Originalaufnahme von Katja Manns Lunge nicht erhalten hat.

Die großformatige Aufnahme von Davos gleich am Eingang stammt aus dem Jahr 1870 und zeigt ein ziemlich unspektakuläres Bergbauerndorf. So ähnlich sah es aus, als am 8. Februar 1865 die ersten zwei lungenkranken Deutschen - der Arzt Friedrich Unger und der Buchhändler Hugo Richter - in Davos eintrafen. Nur zwei Häuser boten Übernachtungsmöglichkeiten, das Rathaus und die Pension Strela. Doch die beiden hatten vom dort praktizierenden "Landschaftsarzt" Alexander Spengler gehört, der die Ansicht vertrat, das Höhenklima der Gegend schütze vor Tuberkulose und wirke heilend. Spengler, ein 1848er-Revolutionär, der aus Baden in die Schweiz geflohen war, um nicht auf dem Schafott zu landen, empfahl den Herren "kalte Douchen", Molkekuren, Liegen an der frischen Luft und leichte Bergwanderungen. Die Therapie hatte Erfolg, was den Arzt nach der Genesung der beiden veranlasste, seine Thesen 1869 in dem Buch "Die Landschaft Davos als Kurort gegen Lungenschwindsucht" festzuhalten. Das war der Startschuss für einen Gesundheitstourismus ohnegleichen, auch wenn die Idee, in bestimmten Klimata könne die Tuberkulose geheilt werden, nicht einmal neu war.

Das ungeheuerliche Tempo, mit dem sich das Dorf urbanisierte, ist auch heute noch verblüffend. Zügig entstanden immer luxuriösere Sanatorien, um den Ansprüchen der Kurgäste gerecht zu werden. Innerhalb weniger Jahrzehnte mutierte das Dorf zum wichtigsten Kurort für Tuberkulosepatienten in Europa. 1877 gab es neben einer neuen Kuranstalt bereits sieben größere Hotels, daneben etwa 30 kleinere Pensionen und Villen. Nicht überraschend, dass Davos sämtliche medizinischen Innovationen sofort aufgriff. 1895 hatte Wilhelm Röntgen die nach ihm benannten Strahlen entdeckt, 15 Jahre später gab es in Davos 27 Röntgeninstitute.

Als die Rhätische Bahn Davos 1890 mit dem europäische Schienennetz verband, steigerte sich das Tempo weiter. Die Anreise mit der Schmalspurbahn war spektakulär. Kirchner hat eine der Bahnbrücken gemalt, Thomas Mann im "Zauberberg" gleich zu Beginn die "wilde drangvolle Felsenstraße" erwähnt, die sich der Zug hinauf kämpft. Zitate aus dem "Zauberberg" tauchen überall in der Ausstellung auf. Doch ist der Roman nur der bekannteste in einer langen Reihe. Der dekadente Lebensstil und die großen Feste einerseits, der oft moralisch fragwürdige, auf maximalen Profit ausgelegte Kurbetrieb andererseits bot sich vielen Autoren als Folie an. Die britische Schriftstellerin Beatrice Harraden schuf mit "Ships That Pass in the Night" (1894) den ersten Davos-Roman, ein Bestseller. Es folgten Elisabeth Frankes Briefroman "Das große stille Leuchten" (1911), Klabunds "Die Krankheit" (1917), René Crevels "Êtes-vous fous?"(1929) oder Hugo Martis berührendes "Davoser Stundenbuch" (1935), um nur einige zu nennen.

Anders als Thomas Mann, der 1912 nur Begleiter von Katia war, kamen die meisten anderen Autoren nach Davos, um gesund zu werden. Regelmäßiger Gast war der Dichter Klabund (1890-1928) alias Alfred Henschke. Er starb auch hier, anders als Christian Morgenstern, der den Ort nach Monaten der Liegekur - Fotos zeigen ihn beim Schachspielen und Schreiben im Liegen - unverändert krank verließ. Robert Louis Stevenson war zweimal da, schrieb in Davos seine "Schatzinsel", fand alles an dem Ort unerträglich und hasste die Kälte. Arthur Conan Doyle, der seine kranke Frau begleitete, ließ in Davos seine berühmte Figur Sherlock Holmes 1893 sterben, weil er keine Lust mehr hatte, sich Geschichten über den Meisterdetektiv auszudenken. Lieber brillierte er als Pionier des Skisports, berichtete darüber in Zeitschriften und lockte Touristen in Massen an. Keiner der Kranken hier wusste, wie lange er noch zu leben hatte, war über Monate hin von der Normalwelt abgesondert und isoliert. "Durch Covid haben wir eine andere Beziehung zu dieser Lebenslage", glaubt Hess. Freilich: Die Pandemie hat die Planung der Ausstellung nicht beeinflusst, sie begann bereits vor sieben Jahren. Angesichts der Objekte aus der medizinhistorischen Sammlung Davos' freut man sich jedenfalls, in der Jetztzeit zu leben und nie die Bekanntschaft mit einer Rippenschere machen zu müssen, dem damals letzten Mittel, um einen erkrankten Lungenflügel stillzulegen. Angeblich gab es auch Menschen, die diese Operation überlebten.

Robert Koch hatte durch die Entdeckung des "Mycobacterium Tuberculosis" das Leiden bereits 1882 als Infektionskrankheit entlarvt. Doch es dauerte 61 Jahre, bis ein wirksames Antibiotikum gefunden wurde hatte und sich Davos gezwungen sah, seine Zukunft endgültig auf dem touristischen Sektor zu suchen. Die Sanatorien verwandelten sich in Windeseile in Luxushotels.

Natürlich kamen auch die Maler. Kirchner, zerstört und zermürbt vom Krieg, fand in der Welt der Bergbauern zu neuen Kräften, die Davoser Gesellschaft interessierte ihn nicht. Sein Kollege Philipp Bauknecht lebte ähnlich einfach wie er, aber nicht freiwillig. Dem Kranken fehlte es an Geld, die Welt der Bauern empfand er, wie seine Gemälde offenbaren, als bedrohlich, primitiv aggressiv. Er starb 1933 während einer Operation in Davos.

Fast vergessen ist auch, wie aktiv die Nationalsozialisten in dem Ort waren. Allen voran Landesgruppenleiter Wilhelm Gustloff, den der jüdische Medizinstudent David Frankfurter am 4. Februar 1936 erschoss und ihn damit zum Nazi Märtyrer machte.

Am Ende erreicht man Kirchners "Wanderer". Mühsam wankt er einher, für Hess Sinnbild des von einem Krieg in den nächsten wandernden Europas. Ganz nah auf einem Sockel liegt die Browning, mit der sich der Maler am 15. Juni 1938 erschoss. Gerade so, als ob Gewalt und Vernichtung das letzte Wort in Europa gehabt hätten.

Europa auf Kur. Ernst Ludwig Kirchner, Thomas Mann und der Mythos Davos . Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, bis 3. Oktober; Anmeldung notwendig über Tel. 0911/1331-333 oder online

© SZ vom 15.03.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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