Kommentar:Reflexartiger Protest

Lesezeit: 1 min

Dass Wutbürger nicht über ihre Hutschnur hinaus denken und alles ablehnen, was ihre Umgebung verändern könnte, ist leider ein ernstes Problem

Von Berthold Neff

Man muss zugeben, dass Iwan Petrowitsch Pawlow, der 1904 den Nobelpreis für seine Arbeiten über die Verdauungsdrüsen erhielt, aber auch die Grundlagen zur Verhaltensforschung legte, vor allem mit Hunden experimentierte. Er zeigte am Beispiel des sogenannten Pawlowschen Hundes, dass dieser den Speichel nicht erst absondert, wenn er zu fressen beginnt, sondern schon beim Erblicken der Nahrung oder bei einem Klingelton, den er regelmäßig vor der Fütterung zu hören bekommt. Pawlow nannte dies einen konditionierten Reflex.

Von einem solchen würde er sicher auch sprechen, wenn er heute das Verhalten von Menschen experimentell untersuchte. Er stieße dabei sehr schnell auf den sogenannten Wutbürger, der sich auf alles mit Geheul stürzt, was in seiner unmittelbaren Umgebung am Werden ist und dabei die Gefahr in sich trägt, ihm in die Quere zu kommen. Dabei muss es sich nicht unbedingt um eine Müllverbrennungsanlage handeln, die täglich von tausend Lkw befüllt wird, oder um ein Stadion, in dem samstags 80 000 Fans lärmen, oder um eine Stadtautobahn. Im Bezirksausschuss Hadern war zu erleben, dass für einen geharnischten Protest, gar einen Aufschrei der gequälten Bürgerseele, schon der Bau einer Zweifachturnhalle ausreicht, die allenfalls 200 Zuschauern Platz bietet.

Dabei ist es ja keineswegs so, dass die Leute, die rings um das Vereinsgelände des TSV Großhadern wohnen, jeglichem Sport abgeneigt sein müssen. Diejenigen unter ihnen, die noch rüstig sind, nutzen vielleicht die Seniorenangebote des TSV, bei anderen sind es die Kinder oder Enkel, die dort Sport treiben und in der neuen Halle eine ideale Plattform dafür finden werden. Ihrer Haltung liegt aber das Sankt-Florian-Prinzip ("Heiliger Sankt Florian, verschon' mein Haus, zünd' andere an") zugrunde. Sie würden, sofern sie im Besitz eines Sport Utility Vehicles (SUV) sind, auch weite Wege zu einer entfernten Halle in Kauf nehmen und die Menschen anderswo belästigen, wenn es bloß bei ihnen vor der Haustür ruhig ist - und der Parkplatz für den Panzer frei bleibt. Dass einer der Kritiker der Haderner Halle das einstige Dorf als "Villenvorort" bezeichnete, mutete da fast schon drollig an. Dass die Leute aber nicht über ihre Hutschnur hinaus denken, ist leider ein ernstes Problem.

© SZ vom 11.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: