Kolbermoor:Weiße Mörder, rote Opfer

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Auf dem Grafinger Bahnhof sammeln sich Mitglieder des Freikorps, die mit einem Militärzug zu ihrem Einsatzort gebracht werden. (Foto: Archiv der Stadt Grafing)

Knapp 30 Kilometer sind es von Grafing nach Kolbermoor - doch am 4. Mai 1919 liegen Welten dazwischen

Von Thorsten Rienth, Kolbermoor

Lärm zerreißt die Sonntagsruhe des 4. Mai 1919 jäh. Holz splittert, Glas klirrt, Männer brüllen. Zwölf Grafinger Weißgardisten treten die Wohnungstür des Kolbermoorer Volksratsvorsitzenden Georg Schuhmann ein und die am Elternhaus seines 18-jährigen Schreibers Alois Lahn. "2 Mann bearbeiteten ihn mit dem Gewehrkolben derart, daß er bewußtlos zu Boden fiel", berichtet Lahns Vater später. "Nachdem sie ihn aufgehoben, schlug ihn einer mit seiner - meines Sohnes - eigener Schreibmaschine den linken Backenknochen kaputt." Die Angreifer zerren Schuhmann und Lahn zur Kolbermoorer Tonwerksunterführung und erschießen sie.

Dabei ist die Herrschaft der Räte über Kolbermoor eigentlich längst beendet. In der Gemeinde bei Rosenheim hatte schon im Februar 1919 ein sogenannter Volksrat den gewählten Bürgermeister verdrängt; vom 29. April an regierte er als "Revolutionärer Arbeiterrat". Doch die Lage war aussichtslos. Schon am 1. Mai war das ebenfalls von Räten regierte Rosenheim gefallen, tags darauf Bad Aibling kampflos besetzt worden. Auch das rote Kolbermoor hatte sich bereits am 4. Mai widerstandslos ergeben. In der Gemeinde hängen Plakate, die zur kampflosen Übergabe aufrufen. Waffen und Munition stehen zur Ablieferung bereit.

Nur knapp 30 Kilometer liegen zwischen Grafing im Landkreis Ebersberg und Kolbermoor. Doch dazwischen verläuft eine Trennlinie: Den Grafinger Raum prägt damals eine fast noch mittelalterliche Handwerker- und Landwirtschaftsstruktur. In der Kolbermoorer Gegend dagegen herrscht die Industrialisierung. Bereits seit 1864 drehen sich in der örtlichen Spinnerei 41 000 Spindeln für die Garnherstellung. Ein paar Kilometer südlich stechen im Torfwerk Nicklheim Tausende Arbeiter Brennstoff. Die Arbeit ist hart, das Geld reicht kaum zum Leben.

Als in München und in weiteren bayerischen Städten am 7. April 1919 die Räterepublik ausgerufen wird, finden sich Grafing und Kolbermoor auf verschiedenen Seiten wieder. Dabei ist die Trennung in "Rote" und "Weiße", also in Anhänger der Revolution und in Konterrevolutionäre, nicht immer deutlich. Auch im Grafinger Raum seien der Revolution zunächst durchaus Sympathien entgegengebracht worden, erklärt der Ebersberger Kreisheimatpfleger Bernhard Schäfer. Doch die Stimmung sei gekippt, als die Landwirte einen Teil ihrer Erzeugnisse für die Lebensmittelverteilung in den hungernden Städten abgeben sollten, ohne Bezahlung. "Das stieß auf totales Unverständnis", sagt Schäfer.

Und so wie die Linken radikalisieren sich auch die Rechten. Der konservative Ebersberger Anzeiger peitscht die Stimmung auf. Ende April stellt das Dörflein Grafing gleich drei Kompanien Freikorps. Gemeinsam mit Freiwilligen aus der Umgebung, so schreibt es eine Kirchenchronik, besteht das Grafinger Freikorps aus 400 Mann. Den Aufzeichnungen zufolge sprengen die Freischärler den Bahndamm bei Zorneding und nehmen in Haar Revolutionäre gefangen, die sich in einem Wirtshaus versammelt haben. Später beteiligen sie sich an der Niederschlagung der Räteherrschaft unter anderem in München, Rosenheim und Bad Aibling. Und sie morden in Kolbermoor.

Der Vater von Alois Lahn sucht später nach den Mördern seines Sohnes. "Es war mir während meines Suchens in den nachfolgenden 8 Tagen unmöglich, auch nur einen von ihnen aufzufinden", schreibt er zwei Monate später ans Kriegsministerium nach München. Daraufhin ermitteln das Bayerische Generalkommando und der Staatskommissar für Südbayern in dem Fall. Am Silvesterabend 1919 stellt die Staatsanwaltschaft Traunstein schließlich Haftbefehle wegen Totschlags gegen die beiden mutmaßlichen Täter aus. Sie heißen Johann Rusch und Georg Schneider. Der Gendarmerie-Station Grafing zufolge stehen ihre Namen auf den Löhnungslisten der Grafinger Freikorps.

Doch bereits am 27. Januar 1920 endet das Verfahren vor dem Traunsteiner Landgericht. Bestraft werden die beiden Freischärler nicht für ihre Tat. Zwar hätten die Angeklagten vorsätzlich Menschen getötet, begründet der Vorsitzende Richter die beiden Freisprüche. "Es hat ihnen aber das Bewusstsein der Widerrechtlichkeit der Tötung gefehlt oder es kann ihnen dieses Bewusstsein wenigstens nicht nachgewiesen werden."

© SZ vom 20.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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