"In Dunkelheit begraben":Die Wut einer Mutter

Lesezeit: 2 min

Sibel Leyla konnte nur die ersten Sätze ihrer Rede selbst sprechen, dann musste eine Freundin weiterlesen. (Foto: T. Hase/DPA)

Sibel Leylas Rede über ihren ermordeten Sohn und ihre Gefühle

Im Protokoll war diese Rede nicht vorgesehen und doch war sie die berührendste der Feier: Sibel Leyla, Mutter des getöteten 14-jährigen Can, sprach über ihre Trauer und Wut. Es ist auch ein leidenschaftlicher Appell, die Ursachen der Tat zu erforschen.

Lieber Can,

es tut mir so leid, dass ich Dich an diesem Abend nicht beschützen konnte und dass ich Dich nicht vor all dem Leid bewahren konnte, das Du erleben musstest. Ich empfinde einen unerträglichen Schmerz, wenn ich daran denke, wie allein und hilflos Du an diesem Tag hier gewesen sein musst. An dem Tag, an dem ich meinen Sohn verloren habe, bin ich zusammengebrochen. An diesem Tag verlor ich auch gleichzeitig mein Leben. Es ist eine nicht enden wollende, übermächtige Dunkelheit über uns gekommen. Diese Dunkelheit hat uns begraben und hat uns unseres Leben beraubt. Wer wird uns unser altes Leben wieder geben? Niemand!

Seither lebe ich mit einem sehr großen Schmerz und dem Verlust, dass wir nie wieder eine komplette Familie sein werden. Niemals werden wir wieder gemeinsam voller Lachen sein. (. . .) Wir werden nicht mehr erleben, wie unser Sohn seine Schule abschließt, seine erste Freundin mit nach Hause bringt, seine erste Arbeitsstelle bekommt. Wir werden nicht erleben, wie er heiratet und selbst Vater wird. Am schwersten fällt mir die Vorstellung, dass Can nie seinen 18. Geburtstag erleben wird. Es sollte ein großes fröhliches Fest werden. Er fehlt uns so.

Seit einem Jahr bin ich in dieser Dunkelheit begraben. Aber inzwischen kann ich wieder gehen und stehen, wieder versuchen, mich mit dem Leben zu befassen. Dann wieder wünsche ich mir, man hätte mich an diesem Tag ebenfalls getötet. Ich bekomme viele Beileidsbekundungen, aber das hilft mir nicht. Das geht an mir vorbei, das ist mir gleichgültig.

Meine Ohnmacht ist immer noch da, aber es ist in der Zwischenzeit eine unbeschreiblich große Wut in mir gewachsen. Eine große Wut, die sich an alle Menschen richtet, deren Aufgabe es gewesen wäre, diese Morde zu verhindern. Ich kann nicht glauben, dass dieses große Unglück, der gewaltsame Tod von neun jungen Menschen (. . .), von nur einem einzelnen Täter verursacht wurde. Ich begreife es nicht. Und meine Wut redet mir ein, dass das System versagt hat, unfähig war und nachlässig. Ich weiß es nicht, aber meine Wut möchte sich gegen jemanden richten, der verantwortlich ist für unser Unglück und der mir sagt, warum das geschehen musste. Ich möchte, dass er und alle meine Wut zu spüren bekommen und dass es unverzeihlich ist, was passiert ist. Ich möchte meine Wut gegen jemanden richten und abgeben können, denn ich halte sie kaum aus. Jetzt wissen Sie, wo ich nach einem Jahr meiner Trauer stehe."

© SZ vom 24.07.2017 / SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: