Hilfsprojekt:Essen auf zwei Rädern

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Tom Michels hat im vergangenen Winter mit Bekannten 1500 Kilogramm Kartoffeln per Fahrrad an Bedürftige der Münchner Tafel verteilt. Jetzt will der ehemalige IT-Unternehmer das Projekt groß aufziehen. Es geht ihm um nichts Geringeres als die Agrar- und Verkehrswende

Von Thomas Anlauf

Tom Michels lacht und es regnet. Er steht in bunten Funktionsklamotten vor seinem Lastenrad auf dem großen Platz vor dem Verkehrsmuseum, im Hintergrund blickt die riesige Schneckenskulptur der Künstler Jason Rhoades und Paul McCarthy eher missmutig. Aber Tom Michels hat alles dabei für ein gemütliches Treffen im Regen. Er dreht kurz eine Runde über den alten Messeplatz, dann parkt er sein Rad unter dem Vordach der Kongresshalle, holt zwei Campingstühle und einen kleinen Kocher aus seiner Fahrradkiste hervor und beginnt, Kaffee zu kochen. Der Kaffee schmeckt, und Tom Michels erzählt - von seinem neuen Leben als Münchens erstem Kartoffelradler.

Es war ein Zufall, dass er im Internet über ein Paar las, das inmitten der Corona-Krise seine Biokartoffeln nicht mehr verkaufen konnte. Gerade hatten die beiden erst begonnen, Kartoffeln anzubauen, und dann das: Die Gastronomie war zu, die beiden hätten ihre Kartoffeln letztlich wegwerfen müssen. Tom Michels wollte helfen. Lebensmittel wegzuwerfen, weil der Bedarf vermeintlich nicht da war, das wollte er nicht akzeptieren. Gemeinsam mit einem Freund organisierte er im vergangenen Winter, dass die reifen Kartoffeln auch nach München gelangen - per Lastenrädern. Kurz darauf "machte es bei mir klick". Warum nicht einfach Biokartoffeln zu Bedürftigen bringen?

Tom Michels regt zu Systemfragen an: Wie verdient der Bauer guten Gewissens sein Geld, wie bekommt der Hungrige etwas Gesundes zu essen? Wie kommt das Gemüse umweltfreundlich zu den Bedürftigen? (Foto: Yoav Kedem)

Der 40-Jährige recherchierte und stellte fest, dass Supermärkte Kartoffeln nicht weiter an Bedürftige spenden. Bei der Münchner Tafel wiederum fanden die Verantwortlichen die Idee großartig, aber irgendwie wohl auch etwas spinnert. Also startete Tom Michels eine Crowdfunding-Aktion über Twitter. Innerhalb von nur eineinhalb Tagen hatte er Spenden für den Kauf von eineinhalb Tonnen Biokartoffeln aus dem direkten Umland von München. Gemeinsam mit mehr als vierzig Radlern (und sogar zwei Fußgängern) holte er die Ware am Stadtrand bei der Allianz-Arena ab. Bei ein Grad Lufttemperatur und eisigem Wind radelten die Kartoffelradler vollbepackt nach München. "Das war schon fast wie ein Contest", sagt Tom Michels und lacht unter dem Dach der Kongresshalle. Die beiden Fußgänger hatten Hackenporsches dabei und fuhren mit Kartoffeln beladen in die Innenstadt. Andere lieferten sich beinahe einen Wettstreit, wer mehr transportieren kann. "Aber es hat den Leuten selber gutgetan zu helfen", sagt Tom Michels. Den Erfolg der bis dahin einmaligen Hilfsaktion hatte die Münchner Tafel offenbar erst nicht so ernst genommen. Als Dutzende Radler mit Kartoffeln eintrafen, waren die Helfer verdutzt.

"Zwanzigtausend Menschen bekommen in der reichen Stadt nicht, was für jeden verfügbar sein sollte: Kartoffeln", sagt Tom Michels. Die Corona-Pandemie hat die Lage noch weiter verschärft. Immer mehr Menschen sind auf Spenden und vor allem kostenlose Nahrungsmittel angewiesen. Der 40-jährige Michels will das nun ändern. Er will mithilfe von Spenden im kommenden Herbst im großen Stil Kartoffeln von Bauern aus dem Münchner Umland kaufen, um sie dann an Bedürftige weiterzugeben. "Wir werden die Ware regional direkt abholen. Und mein Wunsch wäre eine riesige Critical-Mass-Kartoffelfahrt", sagt der gebürtige Münchner: Möglichst Hunderte Radler sollen Bauern Kartoffeln abnehmen und sie per Rad dorthin bringen, wo sie benötigt werden.

Ein Sack Kartoffeln ist für Michels mehr als nur ein eigentlich günstiges Grundnahrungsmittel. (Foto: Steffen Horak)

Wie kommt ein Mensch auf so eine Idee? Für Tom Michels war das eine Folge von Prozessen. Der durchtrainierte Mann mit dem silbergrauen Vollbart und hellen Augen denkt gerne logisch. Bis vor fünf Jahren hatte er noch mit einem Partner eine IT-Firma, das Geschäft lief gut. Dann kam die erste Tochter zur Welt. "Wir haben uns das damals erst ganz easy vorgestellt", sagt er und nippt an seinem Kaffee, während der Regen auf das Vordach der Kongresshalle fällt. "Aber dann habe ich gemerkt, ich muss mich entscheiden."

Die Entscheidung für seine Lebenswende traf er, als er mit dem Rad über die Alpen fuhr. Dann widmete er sich ganz seiner kleinen Tochter, während die Partnerin nach der Elternzeit wieder zurück in ihren Job ging. Zweieinhalb Jahre lang verbrachte er mit seinem kleinen Kind, er stellte sein Leben völlig um: Er lebt seitdem vegan, am Wochenende half er zunächst beim Verein "Bikekitchen" und reparierte Fahrräder. Mit der Tochter verbrachte er jede Zeit in der Natur. "Ich habe bis heute keinen Tag bereut", sagt Tom Michels.

Auf Fahrrädern liefern Tom Michels und seine Bekannten Kartoffeln an Bedüftige aus. (Foto: Steffen Horak)

Natürlich bedeutet das alles auch Einschränkungen, vor allem finanziell. Seit fünf Jahren arbeitet der IT-Experte nun in Vollzeit als "Fahrradschrauber", wie er selber sagt, bei einem Fahrradladen an der Donnersbergerbrücke. Man glaubt ihm, dass er mit dem neuen Leben zufrieden und glücklich ist.

Mittlerweile hat die Familie noch ein weiteres Mädchen, mit der Kleinen hat wiederum die Frau von Tom Michels die ersten Lebensjahre viel Zeit verbracht. Während die Familie früher einfach in den Urlaub geflogen ist, suchen die vier nun die Abenteuer vor der Haustür, per Lastenrad und mit dem Zelt. "Es war schon ein Umbruch", sagt er heute. Aber sein neues Leben hat ihm auch ganz neue Sichtweisen eröffnet. So wie die Geschichte mit der "Kartoffelfahrt", die er vor wenigen Tagen auf seiner Homepage ( kartoffelfahrt.de) erzählt. Dort sammeln er und seine Mitstreiter nun wieder Spenden, um im Herbst möglichst viel Geld für Kartoffeln zusammen zu haben. Das Ziel ist noch weit: Bis Montagnachmittag gingen 1585,26 Euro an Spenden ein.

Der Regen hat mittlerweile aufgehört, die Sonne kommt hervor. Tom Michels packt seinen kleinen Campingkocher und die Kaffeekanne wieder in das Lastenrad. Vor zwei Wochen, erzählt er dann, hatte er ein langes Gespräch mit Daniel Überall, der das genossenschaftlich organisierte Kartoffelkombinat mitbegründet hat. Die Gemeinschaft wirtschaftet mit regionalem, ökologisch erzeugtem Gemüse und setzt auf eine "selbstverwaltete und nachhaltigen Versorgungsstruktur", wie die Genossenschaft betont. Für Tom Michels war das Gespräch mit Überall ein letzter Augenöffner für sein Projekt. "Da entwickelt sich gerade etwas", sagt er. In welche Richtung kann er noch nicht genau sagen - ob seine "Kartoffelfahrt" einmal ein Umweltverein oder eine Projektpartnerschaft oder aber auch ein wie auch immer geartetes Geschäftsmodell wird, das keine Profitmaximierung zum Ziel hat. Für ihn laufen viele Dinge in der Gesellschaft gerade ziemlich falsch. Ein Beispiel? Wenn ein Lieferdienst "mit einem Viereinhalbtonner einen Brief bringt und mit dem Auto auf dem Gehweg oder Radweg parkt, ist das offenbar normal. Wenn wir aber mit dem Lastenrad etwas transportieren, dann wird uns Ideologie vorgeworfen."

Michels geht es gar nicht darum, Autos zu verdammen. "Lasst Autos weiter rumfahren", sagt er. "Aber nur dort, wo es sinnvoll ist." Für die letzten Kilometer in einer Stadt, um etwas anzuliefern, müsste eigentlich kein Kleinlaster die Straße zuparken, findet er. Für ihn ist es deshalb folgerichtig, dass Biobauern ihr Obst und Gemüse an den Münchner Stadtrand fahren und Lastenradler die Waren übernehmen und sie auf den verbleibenden Kilometern im Stadtgebiet verteilen. Dazu könnte er sich auch durchaus Patenschaften mit Landwirten vorstellen, die den Bauern eine gewisse Sicherheit geben, beispielsweise ihre Kartoffeln zu marktüblichen Preisen auch verkaufen zu können und sie nicht vernichten müssen. Und schließlich fragt sich Michels, was eine so dringend notwendige Einrichtung wie die Tafel mit Menschen macht, die auf Lebensmittel angewiesen sind. Die Bedürftigen müssten sich "halb nackt machen und fast schon betteln", um kostenlos Lebensmittel zu erhalten. "Wir sind eine der reichsten Städte Europas und haben trotzdem Zehntausende, die nicht genug zu essen haben", sagt Michels.

Ein Sack Kartoffeln ist für ihn also mehr als nur ein eigentlich günstiges Grundnahrungsmittel. Es ist eigentlich eine Systemfrage: Wie verdient der Bauer guten Gewissens sein Geld, wie bekommt der Hungrige etwas Gesundes zu essen? Und wie kommt das Gemüse umweltfreundlich zu den Bedürftigen? Die Antwort hat Tom Michels eigentlich schon gegeben.

© SZ vom 01.06.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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