Hasenbergl:Wo das Wir zu Hause ist

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Für ihr Projekt "Zeitkapsel Hasenbergl" filmt die Künstlerin Pia Lanzinger Menschen, die Geschichten über das so hartnäckig stigmatisierte Viertel zu erzählen haben

Von Simon Schramm, Hasenbergl

Was macht das Hasenbergl aus? Der Zusammenhalt der Bewohner? Das Image des Viertels und die überraschende Feststellung Ortsfremder, wenn sie entdecken, dass es dort "gar nicht so schlimm ist"? Im Frühsommer dieses Jahres hat die Berliner Künstlerin Pia Lanzinger, die selber im Hasenbergl aufgewachsen ist, ein Kunst-Projekt gestartet, das auf die Frage, was das Viertel so besonders macht, nicht nur eine, sondern sehr viele Antworten geben soll. Ausgangspunkt ist jene Zeitkapsel, die Hans-Jochen Vogel 1960 in den Grundstein für die Siedlung gelegt hatte und die 2012 bei Umbauarbeiten verschwand. Lanzinger will eine neue Zeitkapsel installieren und sie mit Videoaufnahmen füllen, in denen sogenannte Zeitboten über ihre Erfahrungen mit dem Viertel erzählen, über Erlebnisse, die an ein bestimmtes Datum gebunden sind.

Einer dieser Boten ist der Sozialpädagoge Michael Sturm. Er ist ein Kenner des Viertels, in der Institution "Junge Arbeit" (JA) der Diakonie Hasenbergl hat er 30 Jahre lang Jugendlichen geholfen, einen Job zu finden. Er ist extrem vernetzt hier. Aktionen über das Hasenbergl und dessen Identität hat er viele erlebt - bei Pia Lanzingers Projekt beteiligt sich Sturm aus einem Grund: Er begrüßt das Ziel, das Flair des Viertels einzufangen. "Das Wir-Gefühl im Viertel muss weiter gepflegt werden", sagt er. Michaels Sturms Anekdote für das Zeitkapsel-Projekt spielt an einem Juli-Tag im Jahr 1989. Sturm hatte damals einen Jugendlichen aus der Jungen Arbeit geworfen, weil der sich geweigert hatte, die Toiletten zu reinigen, wozu jeder Besucher dort angehalten war. Der Jugendliche reagierte wütend und sagte, er dürfe so eine Arbeit aus kulturellen Gründen nicht verrichten. Noch am gleichen Tag klopfte es aufgeregt an der Tür der JA, und vor Sturm standen viele Leute. "Es waren Sinti und Roma", erzählt er. "Der Vater war sehr aufgebracht und hat mich gefragt, was mir einfiele, seinen Sohn so zu behandeln. Dann hat er seinen Ärmel hochgekrempelt und gezeigt, dass sein Arm tätowiert ist." Die Tätowierung stammte aus der Zeit seiner Gefangenschaft in einem NS-Konzentrationslager.

Sebastian Lehmann. (Foto: Robert Haas)

"Bis dahin habe ich mir gedacht: Ich tue nur Gutes." Die Begegnung machte Sturm klar, dass er eigentlich wenig Ahnung hatte, welche Kultur Sinti und Roma leben - und sie motivierte Sturm, von Neuem über seine Arbeit nachzudenken. "Es gibt Sinti- und Roma-Familien mit traditionellen Berufsvorstellungen. Ich habe mir über die Jahre überlegt: Wo kann ich die Jugendlichen abholen?" 2005 vermittelte Sturm bei einem Konflikt zwischen Sozialbürgerhaus und Sinti und Roma aus dem Viertel - eben daraus ist das Projekt "Drom" entstanden, mit dem die Diakonie Hasenbergl junge Sinti und Roma bei der Arbeitssuche unterstützt. "Damit hat sich ein Kreis geschlossen", sagt Sturm heute.

Das Ziel des Zeitkapsel-Projekts ist es, ein lebendiges Bild eines Viertels zusammenzustellen. Mit Sebastian Lehmann, 29, hat Lanzinger einen Zeitboten gewonnen, der erst seit einem Dreivierteljahr im Viertel beschäftigt ist, seinen Arbeitsplatz aber jetzt schon als seine zweite Heimat bezeichnet. Lehmann kümmert sich um Jugendliche aus dem Hasenbergl. Er arbeitet in der Freizeitstätte "Kiste" im Süden des Viertels, deren Anfänge bis 1978 zurückreichen. Wenn Lehmann erzählt, wie er einem 14-Jährigen durch den ersten Liebeskummer geholfen hat, wie sehr ihn die Integrität und Stärke eines anderen Jungen beeindruckt, der seine offene Spange mit größten Selbstbewusstsein trägt, dann wird deutlich, wie viel Engagement hinter einem Begriff wie "Freizeitstätte" liegen kann. "Die Kiste ist richtungsweisend, nicht lenkend", definiert Sebastian Lehmann die Philosophie dort. "Wir bieten Wege, auf denen sich die Kinder ausprobieren können", etwa im Soundstudio oder beim Longboard-Bauen.

Michael Sturm. (Foto: privat)

Ein Anliegen von Pia Lanzinger ist es auch, das hartnäckige Negativimage des Viertels zu korrigieren, und dieses Ziel teilt sie mit der Zeitbotin Brigitte Patzelt. Die 72-Jährige erinnert sich für Pia Lanzinger an eine Zeit, in der es das Hasenbergl, wie es 1960 entstanden ist, noch gar nicht gab. "Ich bin Hölzlerin", bekennt Patzelt in Anspielung auf das Frauenholz-Barackenlager, eine Unterkunft für Wohnungslose, die um das Jahr 1953 entstanden war und die das Ansehen des Viertels auch nach seiner Auflösung in den Sechzigerjahren noch lange prägte. Das Frauenholz befand sich dort, wo heute das nördliche Hasenbergl liegt, Patzelt ist von 1953 bis 1962 dort aufgewachsen. Die Rentnerin will aufzeigen, dass es auch von dort positive Geschichten zu erzählen gibt - und selber dafür einstehen. "Ich war eine alleinerziehende Mutter und habe für meine drei Kinder gesorgt. Sie haben alle keine Vorstrafen und waren nie rauschgiftsüchtig. Sie sind alle etwas geworden."

Wenn Brigitte Patzelt an der Wintersteinstraße im Hasenbergl steht, tauchen die Bilder ihrer Kindheit auf, und sie beginnt vom Leben in dieser provisorischen Sozialunterkunft zu erzählen. Die Wohnungen hatten zwei Zimmer für fünf Personen, keine Dusche, es gab eine Toilette für alle Bewohner einer Baracke. Patzelt weiß noch, wie sie den Barackenflur geputzt hat, um etwas zu verdienen. Und wie ihre Haare zu Zapfen froren, wenn sie im Winter freitags vom Tröpferlbad nach Hause lief. Es habe große Kollegialität unter den Bewohnern geherrscht, man habe sich immer gegenseitig geholfen, wenn es zum Beispiel nichts zu essen gab oder jemand in der Familie krank wurde.

Brigitte Patzelt. (Foto: Catherina Hess)

Pia Lanzinger hat bisher 50 Zeitboten zusammen und ist immer noch auf der Suche nach weiteren. "Wer mitmachen will, sollte sich beeilen", sagt sie, noch bis Ende des Jahres will sie Boten sammeln. Im kommenden Jahr soll dann das Zeitkapsel-Projekt abgeschlossen werden. An welchem Ort sie vergraben und welche Form die neue Zeitkapsel haben wird, ist noch offen.

Weitere Infos und eine Auswahl an Zeitboten- Videos unter www.zeitkapsel-hasenbergl.de

© SZ vom 22.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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