Hadern:So weit der Wind trägt

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Schülerinnen und Schüler des Derksen-Gymnasiums lassen einen selbstgebastelten Stratosphärenballon in Hadern steigen. Statt in Vilsbiburg landet er einen Tag später an der moldawischen Grenze

Von Mira Brünner, Hadern

Keiner wäre auf die Idee gekommen, dass die Sonde bis nach Rumänien fliegt. Spaziergänger fanden sie. (Foto: privat)

Es geschieht nicht allzu oft, dass etwas in Hadern beginnt und seinen Weg bis an die europäische Außengrenze in Rumänien findet. Und doch wird es genau so kommen, auch wenn die Gruppe von Schülern des kleinen privaten Lehrinstituts Derksen an einem bewölkten Novembermorgen nicht damit rechnet. Die Schülerinnen und Schüler beginnen ihren Tag mit Warten. Stunden später - es ist inzwischen etwa 13.45 Uhr - ist es dann so weit. Endlich ist der Himmel zu weniger als 50 Prozent bewölkt. Endlich kann der selbstgebastelte Stratosphärenballon steigen gelassen werden.

Die Gruppe arrangiert ihr Material äußerst konzentriert: Unter einem großen, weißen Ballon hängt an einer Schnur ein kleiner roter Fallschirm und dann, einige Meter Schnur weiter, aus weißem Styropor, eine Sonde, welche die Schülerinnen und Schüler selbst gebaut haben. Beim Start ist vor allem eins gefragt: Fingerspitzengefühl. Die Sonde darf nicht zu schnell hochgehen, weil sonst die Schnur reißt. Der Ballon muss hoch genug sein, damit die Sonde nicht an den umliegenden Häusern hängen bleibt. Gar nicht so einfach. Als wenige Minuten später die Sonde immer höher in den Himmel steigt und langsam immer kleiner wird, ist die Freude riesig. "Wir haben so viel Herzblut in das Projekt gesteckt, die ganzen Hürden überwunden, das war natürlich ein sehr euphorisches Gefühl", erzählt Schülerin Annemarie Richter stolz. Denn dass das Projekt überhaupt bis zu diesem Punkt kommt, blieb lange Zeit unklar. Einen Stratosphärenballon steigen zu lassen ist keine günstige Angelegenheit - die Messgeräte, die Kameras, die Versicherung. Erst sprangen aufgrund von Corona die Sponsoren ab, dann erklärten sich einige Eltern des Gymnasiums bereit, das Projekt zu finanzieren. Dass das große Abenteuer trotzdem noch bevorsteht, ahnt Annemarie Richter in diesem Moment noch nicht.

Den Ballon ließen die Forscher dann ganz behutsam in die Luft steigen. (Foto: privat)

Vier Stunden später fahren die Schüler nach Vilsbiburg, wo die Sonde ihren Berechnungen zufolge landen soll. Auf dem Weg von Hadern dorthin sollten die Geräte verschiedene Daten sammeln: Temperatur, Geschwindigkeit, Luftfeuchtigkeit, Luftdruck, wie schnell der Ballon gestiegen ist und vieles mehr. Die Daten wollen die Schülerinnen und Schüler an den folgenden Tagen auswerten - so zumindest der Plan. In Vilsbiburg angekommen, warten sie erneut geduldig, diesmal jedoch vergeblich. Vom Ballon fehlt jede Spur, und auch per GPS können sie ihre Sonde nicht mehr erreichen. Die Stimmung in der Gruppe sinkt und nach zwei Stunden geben sie die Warterei in der Kälte auf. Irgendetwas ist eindeutig schiefgegangen. "Weiß der Teufel, was man dann alles an Ideen hat", erzählt Monika Sporrer. Die Physiklehrerin betreut das Projekt gemeinsam mit Alexander Richter, Professor für Elektrotechnik an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena und Vater von Schülerin Annemarie Richter. In ihrer Verzweiflung wenden sie sich an die Polizei, doch auch die kann ihnen nicht weiterhelfen. Für Monika Sporrer wird es eine unruhige Nacht. Der Gedanke um den Ballon bereitet ihr große Sorgen: "Was da alles passieren könnte. Dass er irgendwo auf der Autobahn landet und da eine Massenkarambolage entsteht. Wir hatten ja nur die Versicherung für innerhalb Deutschlands."

In dem kleinen weißen Kasten aus Styropor befinden sich allerlei technische Messgeräte und zwei Kameras. (Foto: privat)

Knapp 1500 Kilometer weiter östlich, nahe der europäischen Außengrenze, macht die rumänische Familie Coneac am Tag darauf einen seltsamen Fund. Beim winterlichen Spaziergang entdeckt sie in einem Baum einen kleinen roten Fallschirm, an dem ein weißer Styroporkasten hängt. In dem Kasten befinden sich allerlei technische Messgeräte und zwei Kameras. An der Außenseite der Styroporbox hängt ein Zettel mit einer Telefonnummer darauf. Punkt 13.16 Uhr, knapp 24 Stunden nach dem Start des Ballons, erreicht Sporrer eine Nachricht, die sie kaum glauben kann. Sie kommt von Alexandru Daniel Coneac, dem Sohn der rumänischen Familie.

Der Ballon, der eigentlich auf einer Höhe von 37 000 Metern hätte platzen sollen, ist statt bei Vilsbiburg zu landen, bis nach Răducăneni in Rumänien geflogen. Er erreichte zeitweilen sogar eine Spitzengeschwindigkeit von 162 Kilometern pro Stunde, wie die Messdaten später ergeben. Alles, was es dafür brauchte, war eine etwas ungenaue Anzeige auf dem Druckminderer für die Heliumflasche und somit zu wenig Helium, um den Ballon platzen zu lassen. Er pendelte sich also auf einer bestimmten Höhe ein, geriet in einen Sturm und legte über Nacht den weiten Weg über Österreich und Ungarn bis nach Rumänien zurück, wo er nahe der moldawischen Grenze von den Coneacs gefunden wurde.

Mit hohem technischen Aufwand haben die Teilnehmenden des Physik-Praxis-Seminars ihre Sonde gebaut. (Foto: privat)

Nach einigem Hin und Her schickt das Physik-Praxis-Seminar einen Kurier nach Răducăneni und wenige Tage später sind alle Geräte heil zurück in Hadern. Mit vollen digitalen Speicherkarten und jeder Menge Daten, die nur darauf warten, ausgewertet und analysiert zu werden. Im Gegenzug schicken die Schülerinnen und Schüler des Praxis-Seminars ein Päckchen mit Süßigkeiten und kleinen Geschenken nach Rumänien, um sich bei der Familie zu bedanken. "Ich fand es sehr schön, wie wir mit dieser Familie in Rumänien kommunizieren konnten. Die haben auch echt jede Mühe auf sich genommen, damit wir unsere Geräte zurückbekommen können", sagt Schülerin Judith Baum. So wird aus dem kleinen Malheur mit dem großen Ballon eine abenteuerliche Geschichte, die laut Alexander Richter "aus dem Projekt etwas Größeres und Bemerkenswerteres gemacht hat, als das Projekt eh schon war. Das ist eigentlich ein wahnsinniger Erfolg."

© SZ vom 02.03.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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