Zukunftsvisionen:Landkreis 2040

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In den beiden kommenden Jahrzehnten soll die Einwohnerzahl in und um Bruck um 50 000 steigen. Experten und Kommunalpolitiker diskutieren, wie sie diese Herausforderung bewältigen wollen

Von Gerhard Eisenkolb, Fürstenfeldbruck

Jede Zeit entwickelt die Planungsinstrumente, die ihrem Selbstverständnis entsprechen. So hatte Altlandrat Gottfried Grimm in den Siebzigerjahren - einer ebenfalls von einem Bauboom und einem stürmischen Bevölkerungswachstum geprägten Zeit - nach dem Motto: alles ist planbar, die damals revolutionäre Idee, einen Kreisentwicklungsplan aufzustellen. Damit wollte er den massiven Zuzug und dessen Folgen steuern und in den Griff bekommen. Das galt als Pionierarbeit. Allerdings machten damals Städteplaner ohne Beteiligung von Bürgern den Entscheidungsträgern, also den Politikern, Vorgaben.

Mit so einem, dem Landkreis von oben übergestülpten hierarchischen Konzept möchte Landrat Thomas Karmasin nicht auf den aktuellen Siedlungsdruck reagieren. In Kooperation mit Städteplanern und Verkehrsexperten haben deshalb auf seine Initiative hin in eineinhalb Jahren die Bauabteilung des Landratsamts und 16 der 23 Kommunen gemeinsam mit Städteplanern, Bürgern und Verbänden ebenfalls als Pionierarbeit an einer "räumlichen Entwicklungsstrategie" gearbeitet, die ein Orientierungsrahmen und Handlungsleitfaden für die Entwicklung des Landkreises bis zum Jahr 2040 sein soll. Die Studie ist am Dienstagabend im Sitzungssaal des Landratsamts etwa 150 Interessierten und Beteiligten präsentiert worden.

Die Notwendigkeit eines solchen Instruments ergibt sich schon aus dem prognostizierten Bevölkerungszuwachs. Nimmt die Landkreisbewohnerschaft bis 2040 jährlich nur um ein Prozent zu, hätte der Landkreis in 23 Jahren etwa 50 000 Einwohner mehr und zählte damit zwischen 260 000 bis 270 000 Menschen. Das wäre die komplette Einwohnerzahl der Stadt Germering (40 000) plus die gesamte Bevölkerung von drei Gemeinden im Westen des Landkreises wie Alling (3664), Egenhofen (3316) und Grafrath (3734). Wo diese Menschen wohnen sollen, wie deren Mobilität bewerkstelligt werden soll und wie die wertvollen Naturräume des Landkreises und die hohe Wohnqualität zu erhalten sind, ist ungeklärt. Die Studie versucht, Lösungen und Alternativen anzubieten, die allerdings nur Optionen sind.

Gleich mehrere Ansätze der räumlichen Entwicklungsstrategie könnten das Planen in Zukunft auf den Kopf stellen. So werden Wachstum und Entwicklung, und damit Wohnbauvorhaben ebenso wie die Ansiedlung von Gewerbe, nicht mehr isoliert als Aufgabe der einzelnen Kommunen betrachtet, in deren Hoheitsbereich die Baugrundstücke liegen, sondern als interkommunale Aufgabe gesehen. Die Kommunen müssten künftig also wie bei der Studie zusammenarbeiten, was heißt, dass sich berechtigte Interessen von Nachbarn nicht mehr so einfach ignorieren ließen.

Zum Leuchtturmprojekt einer solchen Kooperation könnte die Konversion des Brucker Fliegerhorstes werden, auf dessen Gelände ebenfalls interkommunal 1000 bis 2000 Arbeitsplätze und Wohnungen für bis zu 5000 Menschen geplant werden. Die Gewofag, die Wohnungsbaugesellschaft der Stadt München, hat laut dem Brucker Stadtbaumeister Martin Kornacher bereits vorgefühlt und angeboten, nach dem Abzug der Luftwaffe für Mieter preisgünstige Wohnungen zu bauen. Als Kornacher mit dieser Antwort auf die Frage von Alain Thierstein reagierte, ob er sich im Fliegerhorst eine Zusammenarbeit mit München vorstellen könne, ergab sich aus dieser Antwort eine Kontroverse mit Karmasin.

Der Landrat forderte, München solle keine Wohnungen für Menschen bauen, die in München arbeiten, sondern München solle Firmen wie BMW dazu bewegen, im Fliegerhorst zu investieren, um hier gut bezahlte, anspruchsvolle Arbeitsplätze zu schaffen. Solche neuen Ansätze zu einer besseren regionalen Zusammenarbeit sind laut Kornacher auch nötig, damit die Stadt die Infrastrukturkosten von etwa 300 Millionen Euro für das künftige Stadtviertel auf dem Kasernengelände schultern kann. Angesichts der vielen Probleme und hohen Konversionskosten regte eine Zuhörerin an, aus dem Fliegerhorst doch eine Seniorenresidenz zu machen. Dann sei alles in Ordnung.

Einen Perspektivenwechsel könnte auch der Ansatz bringen, das Lebensumfeld und Naturräume nicht mehr als Verfügungsmasse für die Ausweisung von Bauland zu sehen, sondern das Bauen von den erhaltenswerten Naturräumen her zu definieren. Die Landschaft gibt Orientierung und Identität, hieß es dazu. Wobei sich das Wachstum sowieso auf die Verdichtung in Innenräumen und auf die gut erschlossenen Verkehrskonoten wie die S-Bahnhaltepunkte konzentrieren soll. Ein solcher Verkehrsknoten liegt nördlich der Eichenauer S-Bahnstation, hier könnte, so ein Vorschlag der 233 Seiten umfassenden Studie, auf Emmeringer Flur ein neues Eichenauer Wohnviertel entstehen. Gelebt werden soll dort in neuen Wohnformen, die die den Landkreis noch dominierenden Einfamilienhäuser ablösen könnten. An Stelle des eigenen Grüns ums Eigenheim soll es kollektiven Ersatz geben, nämlich öffentliches Grün und Landschaftsparks.

Die Podiumsdiskussion begann Alain Thierstein, Inhaber des Lehrstuhls für Raumentwicklung der TU München, aus der Perspektive des Jahres 2040. Er forderte jeden seiner Gäste auf, bei einem fiktiven Treffen im März in 23 Jahren zu berichten, welche Ideen der Studie bis dahin umgesetzt sind. Landrat Karmasin outete sich als Vertreter einer "Mindermeinung". Er sagte, er würde sich freuen, wenn 2040 nur noch dann im Landkreis neue Wohnungen gebaut werden, wenn es für jede einen neuen Arbeitsplatz gebe. Die Entwicklung des Wohnens und der Wirtschaft sollten also im Gleichschritt erfolgen, was die Wirtschaft und die Finanzkraft der Kommunen gleichermaßen stärke. Freuen würde sich Karmasin zudem über weitere Fortschritte im öffentlichen Personennahverkehr.

Mit dem Thema Verkehr wurde der Landrat zum Stichwortgeber für Alexander Freitag. "Lob darf sein", meinte der MVV-Geschäftsführer. Er wies darauf hin, dass der Landkreis über das ausdifferenzierteste Bussystem in Deutschland verfüge. Im gesamten Landkreis seien mehrere Hundert Bushaltestellen im städtischen und ländlichen Bereich mittels Bussen und Ruftaxen täglich durchgehend zu erreichen. Laut Freitag werden im Jahr 2040 tangentiale Verbindungen zwischen den drei S-Bahnaußenästen realisiert sein. So werde es eine Trambahn geben, die zwischen Fürstenfeldbruck und Maisach die S 3 und die S 4 verbindet und über den ehemaligen Fliegerhorst führt. Auch die Initiative S-4-Ausbau-jetzt, wäre dann überflüssig, weil die S 4 über drei Gleise verfüge, der Ausbau dieser Linie also erfolgt sei, und der Übergang zum Zehn-Minuten-Takt anstehe. Der öffentliche Personennahverkehr werde insgesamt individueller, digitaler und emissionsfrei.

Sandra Meissner, Bürgermeisterin von Kottgeisering, stellte die Menschen in den Mittelpunkt. Sie machte nicht Arbeit oder Verkehr, sondern Identität und Lebensqualität zur Messlatte der Entwicklung. "Ich möchte den Landkreis und Kottgeisering 2040 noch erkennen können", sagte die Rathauschefin der mit 1585 Bewohnern zweitkleinsten Gemeinde des Landkreises. Kottgeisering liegt oberhalb des Ampermooses und ist von Landschaftsschutzgebieten umgeben. Von Kottgeisering aus bietet sich über Ampermoos und Ammersee ein fantastischer Blick auf die Alpen. Ohne diese privilegierte Lage zu erwähnen, meinte Meissner, sie wolle keinen Siedlungsbrei erleben und auch nicht, dass der Landkreis von Kräften aus München überrannt werde. Entscheidend sei für sie, wie der Landschaftsraum in einigen Jahrzehnten aussehe.

Die Vision 2040 von Michael Schanderl, dem Emmeringer Bürgermeister und Kreisvorsitzenden des Gemeindetags, galt der Infrastruktur. Da der Landkreis vor dem Straßenverkehrskollaps stehe, ist es laut Schanderl bis 2040 gelungen, eine gut funktionierende Verkehrsstruktur zu schaffen, sowohl für den Individual- als auch für den öffentlichen Personennahverkehr. "Sonst werden wir scheitern", sagte der Bürgermeister voraus. Mit Blick auf die Schwächen als Wirtschaftsstandort und der höchsten Zahl an Auspendlern in der gesamten Region, hofft Schanderl, dass aus dem Fliegerhorst, so wie in der Studie vorgegeben, ein attraktiver Gewerbestandort mit vielen Arbeitsplätzen wird.

Bescheiden gab sich der Brucker Stadtbaumeister Martin Kornacher. Er sagte: "Ich freue mich, dass wir gemerkt haben, dass wir jetzt die Weichen stellen müssen." Da er, Kornacher, 2040 wohl nicht mehr so gut zu Fuß unterwegs sei, lege er den Schwerpunkt auf die Mobilität und den öffentlichen Nahverkehr, mit neuen Tangentialverbindungen in Nachbarlandkreise wie Dachau. Auch Meissner setzte auf die Eindämmung des Individualverkehrs.

Schanderl sprach von ersten großen Erfolgen. So hätten sich die Bürgermeister darauf geeinigt, wo sie im Landkreis künftig Frei- und damit auch Erholungsräume über ihre Gemeindegrenzen hinaus erhalten wollen. Nur sollten Ideen wie der künftige Landschaftpark zwischen Gröbenzell, Olching und Eichenau frühzeitig mit den Landwirten besprochen werden.

Der MVV-Geschäftsführer schwärmte von den Möglichkeiten, die sich aus der Renaissance des Fahrrads hin zur Elektromobilität ergeben. Dem Ausbau von Radwegen, wie ihn die Studie vorsieht, sagte er eine "große Zukunft" als Ergänzung zu Bussen und S-Bahn voraus. An diesem Punkt hakte Gröbenzells Bürgermeister Martin Schäfer ein und zeigte auf, wie groß die Fallhöhe zwischen einem Handlungsleitfaden und der Realität sein kann. Schäfer wies darauf hin, dass demnächst die Staatsstraße zwischen Gröbenzell und Lochhausen ausgebaut wird. "Wir schaffen es nicht, dort einen zweiten Radweg zu bauen", kritisierte der Gröbenzeller. An einer Staatsstraße müsse es doch möglich sein, auf 500 Metern einen Radweg anzustückeln, da im Radeln die Zukunft der Fortbewegung liege.

Ein Olchinger Landwirt äußerte Bedenken zum künftigen Landschaftspark-Ost, in dessen Mitte die Felder liegen, die seine Familie seit Generationen bewirtschaftet. Er könne sich nicht vorstellen, im Jahr 2040 Landschaftsgärtner zu sein, sagt er. Laut Schanderl, der selbst Landwirt ist, ist nicht geplant, dass in dem als Park definierten Bereich die Bewirtschaftung der Felder aufgegeben wird. Denkbar sei ein Miteinander von Bauern und Bürgern.

Auf den Vorwurf von Bürgern aus Hattenhofen und Althegnenberg, ihre Gemeinden seien Verlierer des Ausbaus der ICE-Strecke München-Augsburg, weil Zughalte gestrichen wurden, reagierte der MVV-Geschäftsführer mit einer Vision. Laut Freitag wird es bis 2040 einen Metropol-Verkehrsverbund geben, der bis Augsburg oder Rosenheim reicht und Hattenhofen und Althegnenberg mehr Zughalte bringt.

© SZ vom 18.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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