Kultur:In der Hölle des Klassismus

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Die Brüder Christian (Nikolai Gemel, links) und Benny (Noah Ilyas Karayar) verbringen das Leben überwiegend isoliert. Im Hintergrund baut der namenlose Mann (Michael Sebastian) weiter an der Wohnung. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Das bedrückende Gastspiel von "Ein Mann seiner Klasse" im Veranstaltungsforum erlaubt den Blick in eine Parallelgesellschaft, über die gerne geschwiegen wird.

Von Florian J. Haamann, Fürstenfeldbruck

Das, was Christian Baron zu erzählen hat, ist brutal. Ja, auch weil es einen gewalttätigen Vater gibt, der im Suff Frau und Kinder verprügelt. Viel mehr aber, weil er fein und ohne Anklage die - bestenfalls - Gleichgültigkeit skizziert, mit der der wohlhabende Teil der Gesellschaft die Ärmsten behandelt. Und er macht deutlich, wie hohl die stets wiederholten Phrasen von Solidarität und Sozialstaat sind. Dem Schauspiel Hannover ist es gelungen, Barons Roman "Ein Mann seiner Klasse" in all seiner Wucht für die Bühne zu adaptieren, wie die Besucherinnen und Besucher der Inszenierung nun bei einem Gastspiel im Veranstaltungsforum erleben durften.

Los geht es schon, bevor es losgeht. Ein namenloser, muskulöser Mann (Michael Sebastian) wuchtet schwere Pressspanplatten in ein Gerüst auf dem Boden, während die letzten Besucher eintreffen. Ein letzter Rumms und das Fundament ist gerichtet für das große Drama, das stellvertretend die Geschichte von Millionen Menschen aus einer Parallelgesellschaft erzählt. Nicht jener, von der die neuen Rechten so gerne fabulieren, sondern der, über die alle lieber schweigen: die "Working Poor". Die Menschen also, die Tag für Tag schwer arbeiten und das Rückgrat der Gesellschaft bilden, und dafür mit einem so mickrigen Lohn abgespeist werden, dass sie damit nicht einmal ausreichend Essen für ihre Familien kaufen können. Christian Baron kommt aus so einer Familie und mit "Ein Mann seiner Klasse" erzählt er ihre Geschichte.

Aus fragilen Holzplatten entsteht die enge Einzimmerwohnung der Familie

Während Christian (Nikolai Gemel), sein Bruder Benny (Noah Ilyas Karayar), die Mutter und eine Tante (beide gespielt von Stella Hilb) kurze, einschneidende Episoden in Pfälzer Dialekt aus der Kindheit der beiden Brüder Ende der Achtziger- und Anfang der Neunzigerjahre in einem der Armuts-Hotspots in Kaiserslautern erzählen, baut Michael Sebastian um sie herum Stück für Stück aus den Holzplatten einen fragilen Raum - die enge Einzimmerwohnung, in der die Familie gemeinsam gelebt hat. Man kann Sebastian als den Vater lesen, das Stück vermeidet es aber, ihn explizit als solchen zu benennen. Wenn der Vater spricht, dann als Stimme aus dem Off (Sprecher: Jan Thümer). In einem Interview im Programmheft erklärt Baron, dass sein Vater 2003 gestorben ist und somit seine eigene Perspektive heute nicht mehr darlegen kann. "Das zu versuchen, wäre mir in diesem Fall falsch vorgekommen", sagt Baron.

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Es gibt so viele Momente an diesem Abend, die nahe gehen, in denen die Ohnmacht, mit der die Protagonisten kämpfen, wütend macht. Beispielsweise als der junge Christian zwar eine Empfehlung fürs Gymnasium bekommt, ihn wegen seiner Herkunft aber keine Schule aufnimmt und er den Weg über eine Gesamtschule wählen muss. Oder wenn der besoffene Vater von einem Nachbarn angegriffen wird und die Polizei mitmacht, statt ihn zu schützen. Und wie er seine Wut dann an der Familie auslässt, weil er erkennt, dass die große Lüge des Kapitalismus: "Wer nur genug arbeitet, der schafft es auch nach oben", eben genau das ist: eine große Lüge. Wer unten ist, der bleibt auch da. Daran ändern auch Ausnahmen wie Christian nichts, der es dank einiger engagierter Menschen, die sich gegen die Strukturen des Systems stellen, schafft, sein Abitur zu machen, zu studieren und Journalist zu werden.

Stolz ist das große Mantra des Vaters. Man müsse sich nur seinen Stolz bewahren. Er ist der Archetyp einer Männlichkeit, die sich dadurch definiert, das versorgende Oberhaupt der Familie zu sein. Weil er genau das nicht schafft, bricht eine Wut aus, die eigentlich gegen das System gerichtet sein sollte, die er aber an denen auslässt, die er schützen will - und die noch schwächer sind als er selbst: seine Frau und seine Kinder. Auch das ist eine dieser schmerzhaften Erkenntnisse: Wer unten ist, der versucht nicht, nach oben zu treten, sondern tritt auf die, die noch weiter unten sind. Als er einmal kurze Zeit arbeitslos ist, irgendwann war dann doch aufgefallen, dass bei ihm öfter mal Dinge "vom Lkw fallen", ist er zu stolz, Sozialhilfe zu beantragen. Lieber durchsucht er in der Nacht die Mülltonnen in der Nachbarschaft, und Christian isst währenddessen nach Tagen ohne Nahrung und mit krampfendem Körper aus Verzweiflung die schimmlige Tapete, weil er in der Schule gehört hat, dass Schimmel ein Pilz ist. Und Pilze kann man ja essen.

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Im Studium versteckt Christian aus Scham seinen Fernseher hinter einem Vorhang

Die "vom Lkw gefallenen" Dinge sind der einzige Luxus, den die Familie hat, ein Fernseher - das von der Gesellschaft zugeschriebene Statussymbol der "Working Poor" - und zwei Videorekorder, mit denen die Kassetten aus der Videothek raubkopiert werden. Wie sehr so etwas prägt, macht Christian mit einer kleinen Episode klar. Wenn er im Studium Besuch bekommt, versteckt er seinen Fernseher hinter einem Vorhang und präsentiert lieber stolz seine Bücher - zu groß die Sorge, wieder stigmatisiert zu werden, denn die intellektuellen Bürgerkinder schauen nicht Fernsehen, sie streamen auf dem von Mama und Papa gesponserten Laptop. Die Codes und Verhaltensweisen, die sie von Kindheit an mitbekommen, muss er unter Anstrengungen lernen - und wird dabei doch immer wieder daran erinnert, dass er niemals dazu gehören wird. So ist das eben, wenn die Kindheitshelden Sylvester Stallone und Super Mario waren und nicht Karl Moor oder Hamlet, Prinz von Dänemark.

Die Inszenierung vertraut bei all dem auf die Stärke des Textes und hält sich angenehm zurück, schafft einen nüchternen Rahmen in dem die stark aufspielenden Schauspieler und Schauspielerinnen all die Wut, Verzweiflung und auch die kleinen Momente der Hoffnung wirkungsvoll in Szene setzen können. Die Wucht, mit der all das beim Publikum ankommt, rührt auch daher, dass "Ein Mann seiner Klasse" darauf verzichtet aktiv eine politische oder moralische Botschaft transportieren zu wollen. Das Stück erzählt einfach, gewährt einen seltenen authentischen Einblick in eine Gesellschaft, aus der man eben auch deshalb so wenig liest, sieht und hört, weil eben kaum jemand von dort in die Position kommt, seine Geschichten erzählen zu können.

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